In der US-amerikanischen Mediävistik rückte die Diskussion um Rassismus im Mittelalter, die vor etwas mehr als 20 Jahren begonnen hatte, zuletzt in den Mittelpunkt des Interesses. Die critical racetheory war dafür eine wichtige Inspirationsquelle, weil sie die Aufmerksamkeit auf implizite und indirekte Formen der sozialen, politischen und rechtlichen Ausgrenzung lenkte und es dadurch möglich machte, die Geschichte rassistischer Diskriminierung weiter als bisher üblich zu fassen. Der Aufsatz gibt einen Überblick über diese Diskussion, über die divergierenden Positionierungen sowie über die Verständnisschwierigkeiten zwischen unterschiedlichen Forschungstraditionen. Im Hauptteil werden drei Beispiele aus dem frühen und hohen Mittelalter herausgegriffen, um das Potential und die Grenzen dieses neuen Forschungsparadigmas zu erörtern: die Wahrnehmung der Ungarn, die Verehrung schwarzer Heiliger und die Herausbildung der Lehre von der natürlichen Sklaverei. Diese Beispiele zeigen, dass ein weiter Begriff von Rasse, der sich auf die Essentialisierung kultureller Unterschiede bezieht, zwar neue historische Kontinuitäten aufdecken, aber auch zu Missverständnissen Anlass geben oder die Spezifik mittelalterlicher Phänomene verdecken kann. Eine Begrenzung des Konzepts auf die Ausgrenzung aufgrund der Abstammung und des Aussehens erscheint daher ebenso notwendig wie der Bruch mit der Auffassung, das Mittelalter sei eine rassismusfreie Epoche gewesen.
In U.S. medieval studies, the discussion of racism in the Middle Ages had begun more than 20 years ago and recently moved into the center of interest. Critical race theory was an important source of inspiration for this, because it drew attention to implicit and indirect forms of social, political, and legal exclusion, thereby making it possible to take a broader view of the history of racial discrimination than had previously been the case. The paper provides an overview of this discussion, of the opposing points of view, and of the difficulties of understanding between different research traditions. In the main section, three examples from the early and high Middle Ages are singled out to discuss the potential and limitations of this new research paradigm: the perception of the Hungarians, the veneration of black saints, and the emergence of the doctrine of natural slavery. These examples show that while a broad concept of race that refers to the essentialization of cultural differences can reveal new historical continuities, it can also give rise to misunderstandings or obscure the specificity of medieval phenomena. Limiting the concept to exclusion on the basis of descent and physical appearance therefore seems as necessary as a break with the view that the Middle Ages were an era free of racism.
Keywords: Rassismus; Mittelalter; Ungarn; Schwarze Heilige; Sklaverei; racism; Middle Ages; Hungarians; black saints; slavery
In den letzten beiden Jahren wurde kontrovers über die Streichung des Ausdrucks „Rasse" aus Artikel 3 des Grundgesetzes debattiert, ohne dass sich der Bundestag zu einer Entscheidung durchgerungen hätte. Die Befürworter der Streichung argumentierten, die Verwendung des Begriffs schließe eine Anerkennung der Existenz von menschlichen Rassen ein, widerspreche der modernen Wissenschaft und sei folglich Relikt einer rassistischen Weltanschauung. An dieser Diskussion zeigt sich in aller Deutlichkeit der Charakter des Begriffs als ‚Unwort': Wer über Rasse spricht, ist dem Verdacht des Rassismus ausgesetzt. Während sich das Wort „Rasse" derart in seiner negativen Bedeutung verfestigt, erlebt der Begriff „Rassismus" zugleich eine Ausweitung auf viele unterschiedliche Formen der Diskriminierung, die auf kulturelle Unterschiede abheben und nicht viel mit der wissenschaftlichen Lehre über menschliche Rassen zu tun haben. Unter diesen weiten Begriff des Rassismus fallen viele Formen der Diskriminierung, die in Artikel 3 neben Rasse genannt werden: Abstammung, Sprache, Glaube, Heimat und Herkunft. Vor diesem Hintergrund verändert sich auch die Perspektive auf die Geschichte von Rassismus im Mittelalter. Während dieses Phänomen lange Zeit als ein Spezifikum der Neuzeit galt, ist heute die Überraschung geringer, in einer dunklen Epoche wie dem Mittelalter auch einem dunklen Phänomen wie dem Rassismus zu begegnen. Wenn gegenwärtig Islamkritik als Rassismus bewertet wird, liegt es nahe, auch in der Zeit der Kreuzzüge und der christlichen Polemik gegen die sogenannten „Mohammedaner" und „Sarazenen" eine rassistische Weltanschauung zu erkennen.
Die Entkoppelung von „Rasse" und „Rassismus" ist ein Charakteristikum der deutschen Wissenschaftssprache. Im Englischen ist hingegen der Begriff „race" trotz aller Kritik an der wissenschaftlichen Lehre des Rassismus nicht allein negativ konnotiert. Dies liegt vornehmlich an der weiteren Bedeutung im Sinne von ethnischer Herkunft. In der Mediävistik war es lange üblich, das lateinische Wort „gens" mit „race" zu übersetzen. Anders als „nation" und „people" akzentuiert „race" die Vorstellung gemeinsamer Abstammung und ist ein gängiger Begriff für die Beschreibung ethnischer Identitäten des Mittelalters. Der Begriff ist aufgrund dieser weiteren Bedeutung frei für eine positive Aneignung durch die Opfer des Rassismus. In der critical race theory, die die Aufmerksamkeit auf implizite und indirekte Formen der Ausgrenzung lenkte, wurde „race" neben „class" und „gender" zu einer universalen Differenzkategorie der kulturwissenschaftlichen Forschung.Race und racism sind somit im Englischen nicht entkoppelt, sondern gleichermaßen Teil des wissenschaftlichen Fachvokabulars.
Dieser sprachliche Unterschied ist nur eine von vielen kontroversen Fragen, die Historikerinnen und Historiker hinsichtlich der Definition von „Rasse" und „Rassismus" umtreibt. Zuletzt hat Jean-Frédéric Schaub eindringlich die Probleme beschrieben, die sich aus der Vielfalt nationaler Forschungstraditionen sowie aus den unterschiedlichen Schwerpunkten wie Antisemitismus, Sklaverei und Kolonialismus ergeben. Er plädiert für eine Ausweitung der Begriffe von Rasse und Rassismus auf die Geschichte der Vormoderne, warnt aber zugleich vor den Gefahren anachronistischer Übertragungen und teleologischer Narrative. Ihm zufolge handelt es sich weder um ein universales Phänomen noch um eine zielstrebig auf die Moderne hinführende Entwicklung. Vielmehr identifiziert er „nichtlineare" Prozesse der „Rassifizierung": Eine Zuspitzung hätten rassistische Diskurse und Praktiken immer dann erfahren, wenn die Mehrheitsgesellschaft auf die Assimilation von als minderwertig angesehenen Gruppen reagierte und Vorstellungen über im Körper verankerte Eigenschaften dazu verwendete, um sozialen Aufstieg und Partizipation an politischer Macht zu unterbinden. Durch die Annahme vermeintlich unveränderlicher Eigenschaften sei versucht worden, Exklusion innerhalb universalistischer Diskursräume wie Christentum, Islam oder Aufklärung rechtfertigen zu können. Die Angst vor Vermischung durch Mischehen ist aus dieser Perspektive ein wichtiges Kriterium für die Identifikation von Rassismus.
Mit diesem Modell versucht Schaub einen Kompromiss zu finden: Einerseits lehnt er die Identifikation von „echtem" Rassismus mit der wissenschaftlichen Rasselehre des 18. und 19. Jahrhunderts ab und verortet wichtige Weichenstellungen in der Vormoderne; andererseits möchte er das Konzept doch so weit schärfen, dass nicht jede Form der vormodernen Diskriminierung und des Ethnozentrismus unter diese Kategorie fällt. Er lehnt folglich Begriffe wie „scientific racism" und „proto-racism" ab, weil damit eine künstliche Grenze zwischen Moderne und Vormoderne eingezogen und eine falsche Teleologie unterstellt werde. Vor allem in der Diskriminierung von konvertierten Juden in Spanien seit dem 15. Jahrhundert sieht er eine erste Manifestation der Konstruktion einer Rasse, weil ungeachtet der religiösen Assimilierung das Kriterium der Reinheit des Blutes zum Ausschluss von politischer Teilhabe verwendet wurde.
Damit befindet sich Schaub allerdings nicht nur im Widerspruch zur alltagssprachlichen Ausweitung des Begriffs auf unterschiedliche Phänomene der Diskriminierung, er streicht auch den überwiegenden Teil der mittelalterlichen Epoche aus der Geschichte des Rassismus. In der Mediävistik wird jedoch das Thema seit etwa zwanzig Jahren intensiv erforscht. Auch wenn es zunächst methodische Vorbehalte gab, ist die critical race theory mittlerweile eine wichtige Inspirationsquelle für neuere Arbeiten zur Wahrnehmung von Fremden, zur Darstellung von körperlichen Merkmalen und zu Praktiken der Exklusion. Der folgende Beitrag soll im ersten Teil kurz die Forschungsgeschichte anhand von einigen wichtigen Meilensteinen rekapitulieren, um das Mittelalter auf der Landkarte der Rassismusforschung einzuordnen. Im Hauptteil sollen anhand von drei Beispielen aus den Feldern Ethnizität, Hautfarbe und Sklaverei das Potential und die Grenzen dieses aktuellen Forschungsparadigmas diskutiert werden.
Der erste Sammelband zum Thema erschien vor zwanzig Jahren in einem Themenheft unter dem Titel „Race and Ethnicity in the Middle Ages". Die Beiträge bezogen sich vorwiegend auf literarische und bildliche Quellen und fragten nach der Wahrnehmung schwarzer oder dunkler Hautfarbe. Dies waren damals zwar keine neuen Fragen, weil sich Literatur- und Kunstgeschichte schon seit den 1970er Jahren damit befasst hatten, allerdings wurden diese Themen noch nicht in eine Gesamtgeschichte des Rassismus eingeordnet. In der Zusammenfassung des Bandes äußerte sich William Chester Jordan kritisch zum Nutzen der Übertragung des Rassebegriffs auf das Mittelalter. Er gab der zukünftigen Forschung eine Reihe von Hausaufgaben: Jordan verlangte nach einer konsensfähigen Definition von Rasse und Rassismus, die eine Abgrenzung von anderen Phänomenen wie Glaubensfeindschaft, Ethnozentrismus und Xenophobie ermöglichen müsse. Nicht jede Form des Hasses, so Jordan, sollte mit Rassismus gleichgesetzt werden. Darüber hinaus forderte er ein, nicht nur Imaginationen in Literatur und Kunst, sondern auch die damit verbundenen Praktiken der Diskriminierung in den Blick zu nehmen. Zuletzt machte er auf das Fehlen des Antijudaismus im Sammelband aufmerksam, obwohl gerade im Umgang mit den Juden und Jüdinnen des Mittelalters das Ineinander von diskriminierenden Praktiken und verleumderischen Diskursen besonders gut untersucht werden könne.
Der zweite Meilenstein in der Erforschung von Rassismus im Mittelalter, der Band „The Origins of Racism in the West" von 2009, liest sich aus der Rückschau wie eine Ausführung des von Jordan skizzierten Programms. Die Herausgeber entschieden sich für ein relativ enges Konzept von Rassismus, das Formen der Abgrenzung durch Religion und ethnische Herkunft ausschließt. Als Rassismus werten sie nur solche Formen der Legitimierung von Diskriminierung, die sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse berufen und vermeintliche körperliche Unterschiede zur Abgrenzung heranziehen, sei es die Hautfarbe oder andere phänotypische Merkmale. Die Herausgeber vertreten die Auffassung, Vorformen rassistischer Argumentation hätten seit der griechischen Philosophie existiert und seien daher eine spezifisch europäische Erfindung, auch wenn sich die Anzeichen für eine Verfestigung des rassistischen Diskurses erst im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit verdichten. Für diese Argumentation sind drei Beiträge zentral: ein Überblick über die mittelalterliche Lehre der Physiognomie, der deutlich macht, dass phänotypische Merkmale im Allgemeinen nicht als Eigenschaften von Gruppen, sondern von Individuen und ihres Verhältnisses zu den Sternen, den Körpersäften und den klimatischen Bedingungen betrachtet wurden; eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zum Aufkommen des Begriffs „race" bzw. „raza" in den romanischen Sprachen, die zeigt, dass der Neologismus von der Pferdezucht auf die Menschen übertragen wurde, als sich der Adel durch genealogische Konstruktionen abzugrenzen begann; und eine Studie zur Vorstellung von der Reinheit des Blutes im spätmittelalterlichen Spanien, mit der die Diskriminierung getaufter Juden oder Muslime gerechtfertigt wurde und die zum ersten Mal in der Geschichte in einem offen rassistischen Regime mündete.
Der Position des Sammelbandes hat die Literaturwissenschaftlerin Geraldine Heng in ihrem Buch „The Invention of Race in the European Middle Ages" von 2018 heftig widersprochen. Heng möchte sich nicht damit begnügen, die Wurzeln oder Anfänge des Rassismus in die Epoche des Mittelalters zurückzudatieren, weil dann weiterhin an der Idealvorstellung festgehalten werden könne, das Mittelalter vom modernen Rassismus freizusprechen. Ihr Buch richtet sich dezidiert gegen alle Versuche, das Mittelalter „weißzuwaschen", auch auf die Gefahr hin, sich dem Vorwurf des Anachronismus oder des Präsentismus auszusetzen. Der Titel des Buches ist daher Programm: Heng verwendet den Begriff Rasse (und nicht Rassismus), weil sie die Auffassung verwirft, die wissenschaftliche Rasselehre als Vorbedingung für die Konstruktion von Rasse zu werten. Damit löst sie das Thema von der Entstehung der Lehre von Menschenrassen, wie sie im 18. und 19. Jahrhundert entstanden ist. Sie versteht „race" als eine universale Kategorie der Differenzierung und Diskriminierung. Race-making definiert sie als Strategie, Unterschiede egal welcher Art zu essentialisieren und für die diskriminatorische Ausübung von Macht zu instrumentalisieren. Es gibt daher nach Heng „religious race" ebenso wie „ethno-race", „physiognomic" und „epidermal race", also Rasse aufgrund von Religion, Volkszugehörigkeit, Physiognomie oder Hautfarbe.
Das Spektrum der von Heng behandelten Themen ist imposant. Nach einer methodischen und forschungsgeschichtlichen Einleitung befasst sie sich eingehend mit der Diskriminierung der jüdischen Minderheit in England, mit dem Bild der Sarazenen während der Epoche der Kreuzzüge, mit der Symbolik von Hautfarben in literarischen Texten und Kunstdenkmälern, mit der Erzählung über die Entdeckung Amerikas in den isländischen Sagas, mit der Wahrnehmung der Mongolen in Reiseberichten und mit der Diskriminierung der Roma seit dem 15. Jahrhundert. Die Erfindung der spezifisch europäischen Form des race-making datiert Heng in das 13. Jahrhundert: Damals sei England zu einem rassistischen Staat geworden, der sich durch die Abgrenzung vom Judentum definiert habe. Zugleich sei die weiße Hautfarbe als Charakteristikum der europäischen Rasse in der künstlerischen Darstellung festgeschrieben worden, während dunkle Hautfarbe vorwiegend als dämonisch, sündhaft und animalisch wahrgenommen worden sei. Folglich sei die Menschheit außerhalb Europas wie Sarazenen und Mongolen zum rassischen Gegenüber stilisiert worden, während im Inneren die Roma seit dem 15. Jahrhundert als „Ungeziefer" vertrieben, verfolgt oder versklavt wurden.
Hengs Buch ist der erste Versuch einer Gesamtdarstellung des Phänomens. Seitdem sind in kürzester Zeit neue Beiträge in großer Zahl publiziert worden, aber kein anderes Buch hat international dieselbe Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie diese monumentale Untersuchung. Sie ist von vielen Seiten als großer Wurf gewürdigt worden, auch wenn manche Rezensenten Vorbehalte gegenüber dem weiten Rassebegriff äußerten. Können alle Differenzen zwischen Menschen rassisch eingesetzt werden, verliert die Zuordnung seine begriffliche Schärfe, so ein häufiger Vorwurf. Müsste nicht zumindest ein Bezug auf physisches Aussehen und genealogische Herkunft bei der Markierung von Differenz bestehen, um von Rassismus zu sprechen? Als Gegenentwurf schlug daher Cord Whitaker vor, „race-thinking" (wie Schaub und Nirenberg) auf physisches Aussehen oder genealogische Herkunft zu beziehen. Ein anderer Einwand malt die Gefahr des Anachronismus an die Wand. Auch bislang sind Forschungen zu Glaubensfeindschaft und zur ethnischen Identität ohne dieses Vokabular ausgekommen. Werden die Phänomene Religion und Ethnizität durch die Anwendung des Rassebegriffs tatsächlich aufgehellt oder nicht vielmehr verunklart? Und: Schlägt sich in der Auswahl der Beispiele nicht eine eurozentrische oder anglozentrische Perspektive nieder?
So wichtig diese Fragen sind, gebührt Heng das Verdienst, durch ihr Werk die Mittelalterforschung in Unruhe versetzt zu haben. Nicht Spanien im 15. Jahrhundert, sondern England im 13. Jahrhundert ist in ihrem Buch der Wendepunkt in der Geschichte des Rassismus. Damit wird der Rassismus von einem geographischen und zeitlichen Randphänomen in das Zentrum des europäischen Mittelalters gerückt. Ihr Buch verfolgt aber noch einen viel weitergehenden Anspruch. Wie in einem ‚Schwarzbuch' werden die dunklen Seiten der Epoche mit kräftigen Farben geschildert, um die Vereinnahmung des Zeitalters durch Rechtsextremisten der Gegenwart unmöglich zu machen. Heng ist der Meinung, dass für die Erklärung der Gräueltaten, Massaker und Genozide des Mittelalters das sanfte Vokabular von „Ethnozentrismus", „Glaubensfeindschaft" und „Vorurteil" nicht ausreicht, ja sogar der Verharmlosung und der Verschleierung dient. Die Mediävistik sei wesentlich beteiligt gewesen am Erstarken rassistischer Denkmuster. Wer weiter mit solchen Begriffen operiere, leiste einer Vereinnahmung durch diejenigen Vorschub, die an die Überlegenheit der weißen, westlichen Zivilisation glauben.
Was aus dieser radikalen Kritik folgt, ist nicht weniger als die Notwendigkeit einer Neuausrichtung der Mittelalterforschung. Es greift sicher zu kurz, diese Forderung als die Folge einer übersteigerten Politisierung der Wissenschaften abzutun, die für die U.S.-amerikanischen Universitäten charakteristisch sei. Auch in Deutschland lässt sich zu Recht fragen, ob die Verherrlichung der Deutschen in der populären ZDF-Serie und in begleitenden Publikationen nicht ein Narrativ festigte, welches Rechtsextremisten aufgriffen, um vor dem Untergang von „1000 Jahre Deutschland" zu warnen. Eine lineare Geschichte von den Anfängen bis heute macht es schließlich unmöglich, die pluralen Ursprünge und die heterogenen Geschichten von denjenigen abzubilden, die heute in Deutschland leben oder deutsche Staatsbürger sind. Die Mittelalterforschung der letzten Jahre hat bereits auf diese Vereinnahmung mittelalterlicher Ursprünge reagiert und zur Pluralisierung der Vergangenheit beigetragen, indem sie sich verstärkt den europäischen Randzonen und den transkulturellen Verflechtungen zuwandte. Dass man sich über politische Implikationen Rechenschaft ablegen muss, ist auf beiden Seiten des Atlantiks erforderlich.
Eine „Kriminalgeschichte des Mittelalters", wie sie Heng schreibt, wirft aber noch eine andere Frage auf. So gerechtfertigt die moralische Empörung über die Täter sowie das Eintreten für die Geschichte der Opfer sind, besteht doch die Gefahr, heutige Maßstäbe der Beurteilung auf vergangene Zeiten zu übertragen und das Verständnis für die Akteurinnen und Akteure, für ihre Selbstverständlichkeiten und eigentümlichen Weltbilder zu erschweren. Gefährdet eine Gleichsetzung mit dem Rassismus der Moderne nicht die so hart errungene Einsicht in die Alterität des Mittelalters? Um deutlich zu machen, was in dieser Frage auf dem Spiel steht, werde ich im Folgenden drei Themen aus dem frühen und hohen Mittelalter herausgreifen, um zu testen, inwiefern sich das neue Paradigma gewinnbringend in anderen Themenfelder einsetzen lässt. Im ersten Teil soll die Wahrnehmung der ungarischen Invasionen des 10. Jahrhunderts auf ihre rassistischen Untertöne hin untersucht werden. Im zweiten Teil werde ich einen Kölner Heiligenkult von afrikanischen Märtyrern vorstellen und fragen, was uns die Konjunkturen dieses Kultes über die Wahrnehmung und Bewertung dunkler Hautfarbe lehrt. Drittens werde ich die Wirkung von Aristoteles erörtern, der in seiner Politik nicht nur die Sklaverei als natürlich rechtfertigt, sondern auch mit einer Lehre über die Unterschiede zwischen den in verschiedenen Regionen lebenden Menschen verbindet. Kurz gesagt: Waren die Aristotelesleser des Mittelalters Rassisten? Und spezieller: War der heilige Thomas von Aquin ein Rassist?
In der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts versetzte das Reitervolk der Ungarn die Einwohner des lateinischen Abendlandes in Angst und Schrecken. In kleinen Verbänden von Reitern tauchten sie unvermittelt im Frankenreich auf, plünderten Kirchen und Klöster und brannten Dörfer und Siedlungen nieder. Aufgrund ihrer Bewaffnung mit dem Reflexbogen und ihrer fremdartigen Taktik von Überraschung und Scheinflucht stellten sie die fränkischen Krieger vor unüberwindbare Probleme. Sechs Jahrzehnte lang wurde das gesamte Frankenreich heimgesucht, von Sachsen bis nach Süditalien, von Bayern bis nach Lothringen und sogar bis an die Mittelmeerküste und nach Spanien. Besonders die Schätze der Kirchen waren den Plünderungen der „Ungläubigen" hilflos ausgeliefert. An allen Orten wurden sie als überaus grausames Volk, als ruchlos, gottlos und verbrecherisch beschrieben. Sie erscheinen sowohl als „Geißel Gottes" für die Sünden der Christen als auch als barbarisches Gegenbild der Zivilisation.
Aber nicht nur das negative Bild wurde in den immer gleichen Topoi transportiert, auch der Name der Ungarn setzte sich schnell fest. Bereits anlässlich des ersten Einfalls im Jahr 862 identifizierte Erzbischof Hinkmar von Reims das neue Reitervolk mit den längst untergegangenen Onoguren des 6. Jahrhunderts, das ihm aus der alten Gotengeschichte des Jordanes bekannt war. Die Namengebung ist ein Indiz für die fehlenden Kenntnisse in Lateineuropa: Während zur gleichen Zeit die arabischen Autoren die Selbstbezeichnung Magyaren erstmals schriftlich bezeugen und die byzantinischen Quellen von der Beteiligung türkischer Kontingente gut unterrichtet sind, hielt man im Frankenreich am Begriff Ungarn so lange fest, dass er noch heute in allen europäischen Sprachen verwendet wird. Wir erfahren nichts über die Vielfalt der sieben magyarischen Völker und die Beteiligung der türkischen Kabaren muslimischen Glaubens an der Landnahme in der pannonischen Tiefebene.
Die Chronisten des Frankenreichs ordneten somit die Ungarn in eine ganze Ahnenreihe von nomadischen Reitervölkern aus dem Osten ein, die seit unvordenklicher Zeit überraschend auftauchten und mit Gewalttaten Schrecken verbreiteten. Widukind von Corvey stellt die Ungarn als Wiederkehrer der Awaren, Hunnen und Goten dar, Regino von Prüm ordnet sie dem Volk der Skythen zu, deren Männer das Reich der Parther, ihre Frauen dasjenige der Amazonen gegründet hätten. Die lateinischen Chronisten sind sich also darin einig, dass es sich bei den Ungarn um eine Abstammungsgemeinschaft handelt, eine gens aus den Weiten des Ostens, der bestimmte Eigenschaften wesenhaft zugeschrieben werden: wild, grausam, gierig, betrügerisch und böswillig.
Der Charakter wird somit als Teil der Abstammung essentialisiert. Doch nicht nur dies: Die Ungarn werden auch entmenschlicht. Nach Regino von Prüm
„leben sie nicht nach Art von Menschen, sondern wie das Vieh. Sie ernähren sich nämlich von rohem Fleisch, trinken Blut, verschlingen als Heilmittel die in Stücke zerteilten Herzen ihrer Gefangenen, lassen sich durch kein Gejammer, durch keine Regung des Mitleids erweichen."
Schon kleinen Kindern, so glaubt Liutprand von Cremona aus den Berichten über die Hunnen zu wissen, zerschnitten sie das Gesicht, um sie im frühen Alter an Schmerz zu gewöhnen. Sie vergießen Blut statt Tränen, kennen keinen Gott und kein Gewissen und trinken das Blut der von ihnen Erschlagenen. Für Widukind sind die Ungarn ein unmenschliches Volk von Giftmischern, das sich nur durch Zufall aus dem Sümpfen des Asowschen Meeres befreit hatte. Diese Entmenschlichung diente einem offensichtlichen Zweck: die unbarmherzige Behandlung der Ungarn während der Kriege zu rechtfertigen. 904 luden die Bajuwaren die Feinde vorgeblich zu einem Gastmahl, nur um den Anführer der Magyaren mit seinem Gefolge hinterrücks zu ermorden. Als Otto der Große im August 955 den entscheidenden Sieg in der Nähe von Augsburg feierte und damit die Einfälle in das Reichsgebiet beenden konnte, ließ er die gefangenen Anführer in Regensburg wie gemeine Diebe aufhängen. Sie starben, so Widukind, einen „schäbigen Tod".
Es ist unschwer zu erkennen, dass die Wahrnehmung der Ungarn alle Kriterien des race-making nach Geraldine Heng erfüllt: Essentialisierung von Differenz, Entmenschlichung und Legitimation diskriminatorischer Praktiken – und dies bei gänzlicher Missachtung der Selbstwahrnehmung der Magyaren. Ebenfalls ist es unbestreitbar, dass diese diskursiven Strategien zum Teil Parallelen in rassistischen Diskursen der Moderne haben, vor allem in Bezug auf den Vorwurf des Kannibalismus, der bei Regino und Liutprand begegnet. Wenn Rassismus als der Versuch zu verstehen ist, „soziale, ökonomische oder religiöse Diskriminierung in Natur" zu verankern, trifft dies für das Beispiel der Ungarn zu: Ihr schlechter Charakter wurde mit ihrer Herkunft von barbarischen Völkern sowie von einem Volk der Giftmischer begründet. Das race-making funktioniert, auch wenn die Chronisten den Ungarn keine äußerlich sichtbaren körperlichen Merkmale zuschreiben. Erwähnt werden nur die besondere Haartracht der Männer und das Narbengesicht der Kinder, aber keine von Geburt an vorhandenen phänotypischen Merkmale, wodurch sie dauerhaft zu Außenseitern der christlichen Gemeinschaft gestempelt worden wären.
Das Beispiel der Ungarn in die Geschichte des race-making einzuordnen, eröffnet somit neue Perspektiven für die Erforschung ethnischer Identitäten des frühen Mittelalters. Der Begriff der Rasse erlaubt es, diejenigen Merkmale von Feindbildern besonders zu akzentuieren, die wie der Vorwurf des Kannibalismus und die Gleichsetzung mit Tieren in kolonialen Kontexten späterer Epochen wiederbegegnen.
Es sind jedoch auch die Nachteile zu bedenken: Die fränkischen Chroniken partizipierten an einem Diskurs über die Herkunft und Geschichte von Völkern, der sich aus der antiken Ethnographie herleitet und im frühen Mittelalter zur dominanten Weltwahrnehmung geworden war. Die politische Welt wurde durch die Verwendung von Ethnonymen strukturiert. Einerseits wurden Völker als Abstammungsgemeinschaften aufgefasst, andererseits war man sich der Veränderbarkeit und Formbarkeit in der Geschichte bewusst. Dies kommt auch in den Berichten über die Ungarn zum Ausdruck. Regino von Prüm schreibt den skythischen Ahnen der Ungarn Heldentaten zu, etwa Siege über die Perserkönige Darius und Cyrus sowie über die Nachfolger Alexanders des Großen. Darüber hinaus kombiniert er diese Informationen, die er aus der Lektüre des römischen Geschichtsschreibers Iustinus bezieht, mit dem Anfang der Langobardengeschichte des Paulus Diaconus. Dort heißt es, dass die Kälte des Nordens die Vermehrung der Bevölkerung begünstige und daher viele Völkerschaften von dort in Richtung Europa losgezogen seien. Folglich lokalisiert Regino die Herkunft der Ungarn in Germanien, wo „das Land so viele Menschen hervorbringt, wie es kaum ernähren kann". Liutprand und Widukind entnehmen aus der Gotengeschichte des Jordanes die Information, dass die Hunnen einst durch Abspaltung von den Goten entstanden seien, als der damalige gotische König die Hexen (Haliurunnae) aus seinem Volk verstoßen habe. Widukind leitet folglich die Ungarn über die Awaren und Hunnen von den Goten ab, von denen er aus Jordanes wusste, dass sie Germanen waren und angeblich von der Insel Sulza abstammten.
Der ethnographische Diskurs blieb somit ambivalent und konnte genauso gut für eine Genealogie des Unheils wie auch für die Annahme einer fernen gemeinsamen Herkunft genutzt werden. Die Ungarn wurden nicht nur als fremd und unmenschlich hingestellt, sondern ihnen wurde zugleich eine heroische Geschichte gegeben, die sie in Bezug zur eigenen Herkunft der Chronisten stellte. Im 9. Jahrhundert gibt es eine Reihe von Zeugnissen, in denen auf die sprachliche Nähe zwischen Goten und Franken hingewiesen und eine gemeinsame Vorgeschichte erwogen wurde. Im gewissen Sinn waren die Ungarn somit ein verwandtes Volk. Eine Verwandtschaft konnte auch aus der biblischen Geschichte abgeleitet werden, die seit der Spätantike mit dem ethnographischen Diskurs verknüpft worden war und die für die gemeinsame Abstammung von den Söhnen Noahs sensibilisierte. Daran konnte angeknüpft werden, als nach dem Ende der militärischen Auseinandersetzung mit der Mission bei den Ungarn begonnen wurde. Schon wenige Jahrzehnte nach der Schlacht am Lechfeld heiratete der ungarische König Stefan der Heilige die Schwester des bayerischen Herzogs Heinrich, des späteren Kaisers. Eine Angst vor der Vermischung durch Eheschließungen hat nicht bestanden. Die essentialisierenden Beschreibungen sind fortan zwar nicht mit einem Schlag aus den Chroniken verschwunden, wurden aber allmählich durch die Aufnahme in die gemeinsame Christenheit an den Rand gedrängt.
Die Einordnung in die Forschungen zur ethnischen Identität erhellt die Zusammenhänge somit auf andere Weise. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Konzepte von ethnischer Identität und Rasse klar voneinander abgrenzbar wären. Versuche, die Begriffe auf je eine Seite eines Gegensatzes zu positionieren, können nicht überzeugen. Weder ist Volk nur ein Begriff der Kultur, der subjektiven Identität oder der geglaubten Abstammungsgemeinschaft noch ist Rasse allein als objektive, auf Natur und den Körper fußende Kategorie zu fassen. Die Pointe der Verwendung von Rasse als allgemeinem Begriff für Diskriminierung besteht gerade darin, eine Kategorie zu bilden, die Religion, Ethnizität, Kultur und andere Differenzierungen überwölbt. Gleichermaßen wäre es jedoch falsch, die Verwendung von Begriffen wie „Volk" und „ethnische Identität" unter den Generalverdacht der Beschönigung der Verhältnisse zu stellen. Der ethnographische Diskurs hat eine lange Tradition und ist Gegenstand einer enorm differenzierten und reflektierten Forschung. Moralische Empörung sollte nicht ein Gradmesser für begriffliche Entscheidungen sein. Ebenso wenig ist die Terminologie allein eine Sache der Strategie der Positionierung in einem wissenschaftlichen Feld. Letztlich dienen Begriffe dem Zweck, historische Sachverhalte verständlich zu machen: gegenüber der Fachgemeinde ebenso wie gegenüber einer breiteren Leserschaft. Der Begriff der Rasse ermöglicht, angewandt auf das Beispiel der Wahrnehmung der Ungarn im 10. Jahrhundert, eine andere Perspektivierung, kann aber die Einbettung in den ethnographischen Diskurs nicht ersetzen.
In der Geschichte der Darstellung von Afrikanern nimmt die Skulptur des heiligen Mauritius im Magdeburger Dom eine Schlüsselposition ein. Die Skulptur stammt aus den 1220er oder 1240er Jahren und stellt den Patron der Domkirche dar, den legendären Anführer einer römischen Legion aus dem ägyptischen Theben. Um das Jahr 300 soll Mauritius mitsamt seiner Legion das Martyrium erlitten haben, weil er sich geweigert hatte, im Auftrag des römischen Kaisers gegen Anhänger des christlichen Glaubens zu kämpfen. Seit dem 5. Jahrhundert wurde das Grab des Mauritius an dem Ort Agaunum in den Westalpen verehrt. Als Otto der Große im 10. Jahrhundert in Magdeburg ein neues Erzbistum errichten ließ, gelang es ihm, Reliquien des Heiligen zu erwerben und nach Sachsen zu transferieren. Seitdem war Mauritius Patron des Erzbistums und ein wichtiger Ritterheiliger des römisch-deutschen Reichs. In all diesen acht Jahrhunderten verlautet aber nichts davon, dass der aus Ägypten stammende Mauritius schwarzer Hautfarbe gewesen sein soll. Die lebensgroße Skulptur ist das erste Zeugnis für einen frappierenden Wechsel in der Ikonographie des Heiligen. Er erscheint in Magdeburg nicht nur das erste Mal mit dunkler Hautfarbe, auch der Realismus in der Darstellung der Physiognomie eines Schwarzafrikaners ist für diese Zeit einzigartig. Diese Tatsache ist umso erstaunlicher, weil schwarz als Hautfarbe des Teufels und von Dämonen ikonographisch eindeutig negativ besetzt war. In der Geschichte des Rassismus im Mittelalter gilt die Skulptur daher als großes Rätsel: „A black saint for whites ... what for?", formulierte ein Historiker.
Inzwischen füllt die Diskussion über den Magdeburger Mauritius eine kleine Bibliothek. Die einen sehen darin eine Auftragsarbeit des Magdeburger Erzbischofs, der ein Symbol für die Heidenbekehrung schaffen wollte. Andere schreiben die Skulptur der Initiative Kaiser Friedrichs II. zu und betrachten sie als eine ideologische Kompensation für die gescheiterten Kreuzzugsunternehmen nach Ägypten: Wenn man schon das Land nicht erobert hatte, konnte man es symbolisch der christlichen Religion einverleiben, indem man zeigte, dass das Christentum dort einst verbreitet gewesen war. Andere werten die Skulptur als Reflex des imperialen Selbstverständnisses Friedrichs II., der Schwarzafrikaner in seinem Gefolge mitführte, um seine universale Herrschaft über alle Völker zu demonstrieren. Wieder andere interpretieren die Skulptur als religiöse Botschaft über die Bedeutungslosigkeit von äußeren Erscheinungen: Auch wenn schwarze Hautfarbe als dämonisch galt, zeige der heilige Mauritius die Möglichkeit der Errettung aller Menschen. Zuletzt attestiert Geraldine Heng der Skulptur eine homöopathische Wirkung: Kleine Dosen von schwarzer Hautfarbe in geschützter und beruhigender Umgebung könnten gegen die Angst vor fremdartigen Menschen in anderen Kontexten helfen.
Diese Diskussion kann durch einen weiteren Fall von schwarzer Heiligkeit bereichert werden, der bislang eher stiefmütterlich behandelt wurde: die heiligen Mauren aus Köln unter ihrem Anführer Gregorius. Die Forschung versteht Gregorius als Nachbildung des Magdeburger Mauritius. Aus kunsthistorischer Perspektive ist dies richtig, weil die ersten bildlichen Darstellungen von Gregorius erst aus dem 14. Jahrhundert erhalten sind. Literaturgeschichtlich ist dies aber falsch: Während Mauritius vor der Magdeburger Skulptur nur ein einziges Mal in der volkssprachigen Kaiserchronik aus dem 12. Jahrhundert als „Mohr" beschrieben wird , sind die heiligen Mauren in der Kölner Überlieferung schon seit dem 6. Jahrhundert bezeugt. „Black saints for whites" waren somit nicht vollkommen ungewöhnlich.
Die Ursprünge der Verehrung heiliger Mauren liegt weitgehend im Dunkeln. Ihr Grab lokalisierten die Kölnerinnen und Kölner in einem prächtigen Kuppelbau auf dem römischen Friedhof im Nordwesten der Stadt. Dieser Bau entstand in der Mitte des 4. Jahrhunderts und hatte einst als Mausoleum für einen Heermeister oder für ein Mitglied der kaiserlichen Familie gedient. Die luxuriöse Ausstattung mit Marmor und Mosaiken sowie einer für diese Region einzigartigen hoch aufragenden Kuppel macht den Bau zu einem der herausragenden architektonischen Denkmäler. Im 6. Jahrhundert wurde das Gebäude in eine Kirche umgewandelt und als Grablege für dort bestattete Märtyrer gedeutet. Der Dichter Venantius Fortunatus erwähnt Umbauarbeiten an der Kirche unter Bischof Carentinus zwischen 565 und 573. Wenig später (um 588) berichtet Gregor von Tours davon, dass an diesem Ort fünfzig Soldaten aus der Thebäischen Legion ums Leben gekommen seien und dass die Kirche wegen der vergoldeten Mosaike „die goldenen Heiligen" genannt werde. Das älteste Heiligenverzeichnis, das Martyrologium Hieronymianum aus der Zeit um 600, gibt diesen Soldaten erstmals eine maurische Herkunft und datiert ihr Gedenken auf den 15. Oktober. Spätere Martyrologien identifizieren die „goldenen Heiligen" mit den fünfzig „heiligen Mauren".
Das lateinische Wort maurus bezeichnet die Herkunft aus Mauretanien, wurde aber durch die Nähe zum griechischen Wort für „dunkel" (μαῦρος) bereits in der Spätantike für die Bezeichnung dunkelhäutiger Personen aus Afrika verwendet. Isidor von Sevilla vermittelte dem Mittelalter diesen Zusammenhang in seiner Enzyklopädie:
„Die Mauren werden so von den Griechen wegen ihrer Farbe genannt. Die Griechen sagen zu schwarz ‚mauron'. Sie nehmen ja die Gestalt schwarzer Farbe an, weil sie durch die brennende Hitze versengt werden."
Anders als für Menschen äthiopischer Herkunft, die in der christlichen Literatur der Spätantike häufig mit Sündhaftigkeit assoziiert wurden, ist jedoch für die Mauren keine negative Stereotypisierung erkennbar. Dies änderte sich erst im 8. Jahrhundert, als die muslimischen Eroberer Spaniens sowohl als „Sarazenen" als auch als „Mauren" bezeichnet wurden. Dieser Sprachgebrauch verbreitete sich im Frankenreich des 9. Jahrhunderts. Das althochdeutsche Wort „môr", das zu dieser Zeit erstmals belegt ist, behielt jedoch die Bedeutung als Bezeichnung für Menschen schwarzer Hautfarbe bei und wurde sowohl für die Herkunft aus Mauretanien als auch aus Äthiopien verwendet.
Der reale Hintergrund für die Entstehung des Kults lässt sich nur erahnen. Echte Märtyrer maurischer Herkunft gab es sicher nicht. Vermutlich nahm die Legende ihren Ursprung von Bestattungen maurischer Legionäre auf dem Friedhof um das Mausoleum. Einheiten aus Mauretanien waren im ganzen römischen Reich verteilt: im Truppenverzeichnis der römischen Armee aus dem 5. Jahrhundert, der Notitia dignitatum, sind maurische Fußsoldaten im Illyricum und in Italien, berittene Soldaten in Pannonien, Britannien, Italien und Gallien bezeugt. Dass wir nichts über Stationierung von Mauren am Niederrhein wissen, liegt an der lückenhaften Überlieferung des Truppenverzeichnisses. Der Niederrhein fehlt in der Notitia dignitatum, wohl weil damals bereits die Franken als Föderaten der Römer die Grenze sicherten. Dennoch gibt es vereinzelte Spuren der Präsenz von Soldaten afrikanischer Herkunft: In Bedburg bei Kleve wurde der Grabstein eines Präfekten mit Namen Claudius Aelianus aus Mauretanien (3. Jahrhundert) gefunden; direkt in der Kirche St. Gereon fand man nach deren Zerstörung im Zweiten Weltkrieg eine Inschrift für Donatus aus der Provinz Africa, ein Mitglied der Leibgarde aus dem 4. Jahrhundert. Vermutlich waren es solche Inschriften von Soldaten, die Anlass für die Legendenbildung gaben und die Phantasie der Christen des 6. Jahrhunderts beflügelten.
Über die Frage, warum gerade damals schwarze Heilige erfunden wurden, kann nur spekuliert werden. Die Legende der Thebäer war in Agaunum entstanden, sie wurde später vom burgundischen König Sigismund (gest. 523/524) gefördert und ist dann nach Norden in das fränkische Rheinland gewandert. Der Zeitraum kann in die Jahrzehnte zwischen 500 und 540 eingegrenzt werden, als die Merowinger zuerst eine Allianz mit dem burgundischen Königshaus schlossen und dann in einem Kriegszug das benachbarte Königreich einverleibten. In dieser Zeit war Nordafrika eine Region mit einem gefestigten und blühenden Christentum, während die Kölner Franken in den 520er Jahren noch einen heidnischen Tempel frequentierten und von ihrem christlichen König nicht daran gehindert werden konnten. Nach dem Abzug der römischen Truppen um 400 waren Christen in großen Scharen aus der Stadt geflohen, die in die Hände der heidnischen Franken gefallen war. Vielleicht hatte sich auch der Bischof von der Grenzstadt in das sichere Hinterland zurückgezogen. In dieser prekären Zeit hielten die verbliebenen Christen Kölns an einem weiten Horizont fest, wie anhand der Namensgebung erkennbar ist. Die lateinischen Grabinschriften des 5. und 6. Jahrhunderts überliefern Namen, die Bezüge zur griechischen Welt und zu römischen Kaisern aufweisen. Möglicherweise ist die Erfindung der Legende in diesem Kontext einzuordnen: Die heilige Mauren erinnerten die dezimierte christliche Gemeinde Kölns an die universale Strahlkraft der eigenen Religion in einer feindlichen Umwelt.
In den nächsten Jahrhunderten wurden die heiligen Mauren von einem anderen Heiligen an den Rand gedrängt, dem heiligen Gereon. Sein Name begegnet erstmals in Martyrologien des 8. Jahrhunderts als Anführer von 318 Soldaten der thebäischen Legion. Die Kirche, die im 6. Jahrhundert noch den Namen „goldene Heilige" trug, nahm das Patrozinium St. Gereon an, das sie noch heute hat. Gereon galt wegen seiner Herkunft aus Theben als Ägypter und wird wie Mauritius weder in schriftlichen noch in bildlichen Quellen als dunkelhäutig dargestellt. Seine Verehrung nahm innerhalb kurzer Zeit derart an Bedeutung zu, dass er zum Reichsheiligen des Frankenreichs aufstieg und in der königlichen Liturgie des 8. Jahrhunderts, den „Laudes regiae", neben Martin von Tours und anderen prominenten Heiligen angerufen wurde. Die Kirche St. Gereon war Ort einer Königserhebung und möglicherweise auch Grablege der Merowinger.
Über Jahrhunderte hinweg hören wir nicht mehr viel von den heiligen Mauren. Sie blieben ein Fixpunkt in den Martyrologien der Karolingerzeit, ohne dass sich jedoch eine Ausbreitung des Kultes oder eine hagiographische Aufwertung beobachten ließe. Genau in dieser Zeit, zwischen dem 7. und dem 10. Jahrhundert, fand der Prozess der Dämonisierung dunkler Hautfarbe in bildlichen Quellen statt. Jean Devisse hat dies als einen paradoxen Prozess charakterisiert: Während man in dieser Epoche kaum Kontakt mit Personen afrikanischer Herkunft hatte und Nordafrika Teil des islamischen Kalifats wurde, löste sich dunkle Hautfarbe von realen Personen und wurde als hermeneutisches Mittel zur Darstellung von Sünde, Dämonen und Teufel verwendet. Menschen dunkler Hautfarbe begegnen nur mehr als Schergen bei der Kreuzigung Christi oder als Henker bei der Enthauptung Johannes' des Täufers. Die Erinnerung an heilige Mauren passte vermutlich nicht in dieses neue Bild von Afrikanern. Hinzu kommt, dass seit dem 9. Jahrhundert der Begriff der Mauren ausgehend von Spanien mit den muslimischen Glaubensfeinden assoziiert wurde.
Die Wiederentdeckung der heiligen Mauren fand erst im 11. Jahrhundert statt. Verantwortlich dafür war Erzbischof Anno II., bekannt durch seine Entführung König Heinrichs IV. in Kaiserswerth sowie durch den Aufstand der Kölner gegen sein tyrannisches Regiment. Anno hatte erhebliche Umbauten der hochadeligen Stiftskirche St. Gereon angeordnet: Der Chor wurde erweitert, eine Krypta darunter angelegt sowie zwei Türme für eine städtebauliche Akzentuierung angebaut. Bei den Bauarbeiten fand man die vermeintlichen Überreste des Anführers der Mauren, des bis dahin völlig unbekannten Gregorius Maurus. Die Biographie Annos, kurz nach 1100 entstanden, rationalisiert die Auffindung der Reliquien durch eine Visionsgeschichte, in der die Mauren den schlafenden Erzbischof eines Nachts heimsuchen. Ihre Zahl ist inzwischen von fünfzig auf 360 angewachsen und übersteigt somit die 318 Gefährten des heiligen Gereon. Nach dem Visionsbericht erscheinen die maurischen Ritter in voller Zahl vor dem Erzbischof und führen mit finsteren und furchteinflößenden Gesichtern (torvis aspectibus) Klage darüber, dass die Erinnerung an ihr Martyrium für den christlichen Glauben in Vergessenheit gerate, weil ihre Krypta unscheinbar und klein sei. Kein Erzbischof habe sich ihrer angenommen, von Anno jedoch hätten sie anderes erwartet. Ihre Hoffnung sei aber enttäuscht worden, weswegen sie durch das gerechte Urteil aller beschlossen hätten, ihn durch die Peitsche zu züchtigen. Die Mauren entkleiden Anno, verprügeln ihn und nötigen dem Erzbischof das Versprechen ab, sich künftig um die Verbreitung ihres Kultes zu bemühen. Kurz darauf erwacht der Erzbischof mit großem Schrecken aus dem Schlaf und spürt noch an allen Körperteilen die in der Vision erlittene Züchtigung der Mauren. Er erfüllt das den Heiligen gegebene Versprechen und entdeckt während des Baus an der Krypta für die Mauren die Gebeine ihres Anführers Gregorius. Der Biograph Annos beendet diese Visionsgeschichte mit der Aussage: „Und von da an wuchs der Name und die Erinnerung an die heiligen Mauren an allen Winkeln Kölns und wurde berühmt."
Ein Erzbischof, der sich von dunkelhäutigen Heiligen prügeln lässt: Dieses Bild ist ebenso aufsehenerregend wie die Darstellung des heiligen Mauritius als Afrikaner. Und auch in diesem Fall stellt sich die Frage: Warum wollte Anno II. diesem vergessenen Kölner Kult neues Leben einhauchen? Zuvorderst schlägt sich darin Annos maßlose Jagd nach Reliquien nieder, die er aus allen Teilen der Christenheit heranschaffte oder von seinen Untergebenen erpresste. Partikel vom schier unendlich großen Vorrat des heiligen Kreuzes erreichten ihn aus Konstantinopel; aus Rom nahm er den Arm des heiligen Caesarius von Terracina mit; St. Maurice im Wallis musste ihm bei der Rückreise den Leib des heiligen Innocentius und den Kopf des heiligen Vitalis abtreten; der Bischof von Augsburg überließ ihm eine Fußzehe der heiligen Afra; aus Malmedy befahl er die Entführung der Gebeine des dort bestatteten Kölner Bischofs Agilolf. Annos Ziel war es, die Stadt Köln als vornehmste Tochter Roms zu einer der heiligsten Stätten des Christentums zu machen und durch Gründungen neuer Kirchen dem eigenen Namen Glanz und Ruhm zu verleihen. Unter Anno II. war Köln die Metropole des römisch-deutschen Kaiserreichs: Er war einige Jahre Regent für den minderjährigen König Heinrich IV. und entschied über das Schicksal des Reformpapsttums in Rom. Durch das Sammeln von Heiligenreliquien brachte er die gesamte Christenheit nach Köln. Die heiligen Mauren sind, so lautet die naheliegende Vermutung, vor allem ein Symbol für die universalen Ansprüche des Kölner Erzbischofs.
Was lernen wir nun aus der wechselvollen Kultgeschichte der heiligen Mauren? Zunächst ergibt sich eine andere Bewertung für die berühmte Magdeburger Skulptur des heiligen Mauritius. Wie eingangs erwähnt, gilt der Magdeburger Mauritius als ein Indiz für einen abrupten Wandel in der Darstellung von Schwarzafrikanern im westlichen Mittelalter. Während vor dem 13. Jahrhundert allein Dämonen, Henker und Unholde als dunkelhäutig dargestellt wurden, begegnen seit Mauritius Schwarzafrikaner auch als positive Identifikationsfiguren. Auf adligen und städtischen Wappen wurden seit dieser Zeit Mauren („Mohren") als Symbolfiguren eingesetzt, und etwas später verwandelte sich einer der drei heiligen Könige in einen Repräsentanten Afrikas, während die anderen beiden für die Erdteile Europa und Asien standen. Daneben gibt es auch positiv besetzte Heldenfiguren in der volkssprachigen Literatur, wie Belakane und ihr Sohne Feirefiz im „Parzival" Wolframs von Eschenbach. Auf dieser Grundlage ist man sich in der Forschung einig, dass im 13. Jahrhundert die ausschließlich negative Bewertung dunkler Hautfarbe überwunden worden sei. Diese Ansicht wird jedoch durch die Kultgeschichte der Kölner Mauren in Frage gestellt. Bildliche Darstellungen der Kölner Mauren sind zwar erst seit dem 14. Jahrhundert bekannt, aber es muss sie bereits früher gegeben haben. Der spätromanische Schrein für Gregorius ist ebenso verloren gegangen wie die Tumba in St. Gereon, die vermutlich aus dem 12. Jahrhundert stammte. Wir wissen also nicht, wie der heilige Gregorius dargestellt worden ist. In der literarischen Überlieferung haben jedoch dunkelhäutige christliche Märtyrer durchaus eine Vorgeschichte, die im 6. Jahrhundert einsetzte und somit lange vor die Zeit des 13. Jahrhunderts zurückreicht. Der Bericht über die legendäre Vision Annos II., bei der der Erzbischof von der versammelten Schar von 360 heiligen Mauren entkleidet und verprügelt wurde, ist ähnlich spektakulär wie der Realismus der Magdeburger Skulptur, wurde aber bislang in der Forschung zu Rassismus nicht wahrgenommen.
Es wäre aber sicher verfehlt, wenn man aus den Legenden über dunkelhäutige Heilige eine versöhnliche Botschaft ableiten wollte, in dem Sinn, dass der mittelalterliche Rassismus gegenüber Schwarzen doch nicht so schlimm gewesen sei. Vor dieser voreiligen Entlastung muss uns die Einsicht in die Tatsache bewahren, dass die Legendenbildung um schwarze Heilige vor dem Hintergrund einer negativen Charakterisierung von Schwarzafrikanern stattfand, die sowohl im Christentum als auch im Islam und im Judentum tief verankert war. Zur gleichen Zeit, als in Köln die Legende über Anno und die Mauren niedergeschrieben wurde, verübten die Kreuzfahrer einen Genozid an Schwarzafrikanern in Palästina, von dem der Kanoniker Albert von Aachen gleichmütig berichtet. Rassistische Wertungen prägten das Mittelalter weit mehr als die wenigen dunkelhäutigen Märtyrer. Aus der Geschichte des Rassismus lernen wir vielmehr, dass stets ein komplexes Ineinander von Regeln und Ausnahmen herrschte. Im Fall der schwarzen Heiligen zeigt sich vor allem, dass es ein höheres Interesse gab, das die übliche Wertung der Hautfarben durchbrach: das Interesse, das Christentum als eine universale Religion darzustellen, die auf der ganzen Welt erfolgreich war. Die Kölner Mauren erfuhren wegen ihrer universalen Strahlkraft und nicht wegen ihrer Hautfarbe eine positive Wertschätzung und besaßen als Symbol für das Fremde vornehmlich einen symbolischen Wert. Wir sollten die Legende der Mauren nicht isoliert betrachten und der Versuchung widerstehen, daraus eine versöhnliche Geschichte zu machen.
In der Geschichtsforschung besteht kaum ein Zweifel daran, dass Aristoteles eine Form des Protorassismus vertrat. Im ersten Buch seiner „Politik" rechtfertigt er die Sklaverei als natürliche und gerechte Form der Überordnung über intellektuell minderbegabte Personen. Wer nicht in der Lage ist, ein vernünftiges Leben zu führen, seinen Charakter durch Tugenden zu perfektionieren und sich in politischer Gemeinschaft zu organisieren, ist zu einem Leben als Sklave vorherbestimmt. Unter diese Klasse von Menschen fallen zuallererst die Barbaren. Aristoteles zitiert befürwortend das griechische Sprichwort: „Es gehört sich, dass die Griechen über die Barbaren herrschen, weil Barbar und Sklave von Natur aus dasselbe sind." Im siebten Buch der „Politik" führt er eine weitere allgemeine Begründung für die Versklavung von Menschen an, indem er der Einwirkung klimatischer Verhältnisse eine große Bedeutung zuschreibt: Die Völker in den kalten Gegenden Europas haben ein Übermaß an Mut, sind aber im Denken und in der Kunst rückständig; die Völker in Asien sind dagegen denkerisch begabt, doch mutlos. Deshalb leben die nördlicher Völker zwar in Freiheit, können aber aus sich heraus keine Staatsbildung hervorbringen. Die südlicheren Völker verbleiben dagegen wegen ihrer Mutlosigkeit in Sklaverei. Allein die Bewohner Griechenlands haben sowohl Mut als auch Intellekt und sind daher zur Beherrschung der umliegenden Völker berufen.
Diese Rechtfertigung der Sklaverei barbarischer und rückständiger Völker war über Jahrhunderte unbekannt im lateinischsprachigen Teil Europas. Erst in den 1260er Jahren wurde die „Politik" des Aristoteles ins Lateinische übertragen und fand Eingang in das Curriculum der Universitäten. Bis dahin waren sich Theologen und Juristen darin einig, dass Unfreiheit im Urzustand unbekannt war und weder Teil des göttlichen noch des natürlichen Rechts, sondern allein ein Element der menschlichen Rechtsordnung oder des Völkerrechts (ius gentium) ist. Unfreiheit galt wie Herrschaft über Menschen als ein Zeichen der Erbsünde. Nur ganz vereinzelt zogen Gelehrte aus der Idee ursprünglicher Gleichheit den Schluss, prinzipielle Kritik an der Existenz von Unfreiheit zu äußern. Eike von Repgow, der Autor des Sachsenspiegels, ist das bekannteste Beispiel. Im Übrigen war die Zurückführung der Unfreiheit auf das menschliche Recht gut vereinbar mit der Akzeptanz von Unfreiheit in der mittelalterlichen Gesellschaft und mit der Verteidigung der Besitzrechte von geistlichen und weltlichen Herren, auch wenn die Freilassung von Unfreien als Werk der Barmherzigkeit angesehen und deshalb positiv bewertet wurde. Zudem erlaubte dieses Argument den Theologen, die Eheschließung von Unfreien gegen die Interessen der Eigentümer zu verteidigen, weil die Ehe als Teil des göttlichen Rechts Vorrang gegenüber der Unfreiheit genoss, die nur Teil des menschlichen Rechts war.
Mit dieser Begründung der Sklaverei war auch Thomas von Aquin vertraut, der berühmteste Gelehrte des Mittelalters. In seinen Abhandlungen vor der Übersetzung der aristotelischen „Politik" gab er diesen Standpunkt der Theologen unverändert wieder. In den späteren Schriften ab 1260 machte er sich sukzessive mit der Argumentation des Aristoteles vertraut und inkorporierte dessen Argumentation in sein eigenes Theoriegebäude. Aristoteles ermöglichte es, die Sklaverei nicht nur als Teil des vom Menschen gemachten Rechts, sondern als natürliches Recht zu begründen. Thomas tat dies, indem er in seiner „Summa theologiae" zwischen zwei Formen des natürlichen Rechts unterschied: einerseits im Sinne des Naturzustands vor dem Sündenfall, als es weder Unfreiheit noch Eigentum gab; andererseits im Sinne der natürlichen Gerechtigkeit, nach der die Intelligenteren zur Herrschaft über die rückständigen Menschen berufen sind. Unfreiheit und Eigentum stehen demnach nicht im Gegensatz zur Ordnung des Naturzustands, sondern wurden vom Menschen dem Naturrecht hinzugefügt, weil beides für das Zusammenleben nützliche und gerechte Einrichtungen sind.
Am ausführlichsten äußerte sich Thomas von Aquin in seinem Kommentar zur „Politik" des Aristoteles, an dem er bis zu seinem Tod im Jahr 1274 arbeitete. Thomas bemüht sich nicht nur darum, das Verständnis der oft erratischen Übersetzungen des Aristoteles zu erleichtern, er setzt auch an einigen Stellen eigene Akzente. Dies ist besonders beim Abschnitt über Sklaverei der Fall. Hier begründet er viel ausführlicher als Aristoteles, warum Barbaren und Sklaven gleichzusetzen sind. Wie Aristoteles schreibt er, dass derjenige, der nicht der Vernunft gemäß und daher nicht als Mensch lebt, zur Sklaverei bestimmt sei. Barbaren entbehren der Vernunft entweder wegen der Herkunft aus nicht gemäßigten Klimazonen, welche die Menschen schwach und träge machen; oder wegen einer schlechten Gewohnheit, durch die Menschen unvernünftig und gefühllos werden. Barbaren sind meistens körperlich robust und schwach im Geist und leben wie Tiere an den Rändern der Welt. Man könne sie daran erkennen, dass sie nicht nach Gesetzen leben und keine Schrift benutzen. Dann zitiert Thomas dasselbe griechische Sprichwort wie Aristoteles und fügt dem ein passendes Bibelzitat hinzu.
Zum siebten Buch der „Politik" hinterließ Thomas keinen Kommentar, weil ihm der Tod mitten im dritten Buch die Feder aus der Hand riss. Der Gelehrte Peter von Auvergne, ein Weltkleriker und Magister der Theologie an der Universität Paris (gest. 1304), setzte den Kommentar selbständig fort. Klimatheoretische Überlegungen waren bereits vor der Übersetzung der „Politik" im lateinischen Westen bekannt, doch stellte Aristoteles eine Herausforderung dar, weil er die europäischen Völker gegenüber den Griechen abwertete und damit im Widerspruch zur Vorstellung einer Translation der Gelehrsamkeit von Osten in den Westen stand. Peter musste folglich einen Weg finden, das von Aristoteles behauptete intellektuelle Defizit der Europäer zu entkräften. Er macht zuerst einen historischen Einwand: Die Griechen seien viel länger von Persern in Asien und von Römern in Europa beherrscht worden als umgekehrt. Man müsse daher nicht nur die klimatischen Bedingungen berücksichtigen, sondern auch den Einfluss der Sterne und Planeten auf das Leben der Menschen. Ebenso wichtig sind, so Peter von Auvergne, aber die natürlichen Gegebenheiten eines politischen Gemeinwesens wie die Nähe zum Meer oder zum Gebirge und das Vorhandensein trockener bzw. sumpfiger Gebiete. Zuletzt sei die klimatische Disposition nur ein Faktor, wichtiger sei das Streben nach Weisheit und die Übung in den Tugenden. Durch Tugenden sei das römische Reich gewachsen, durch Laster und Nichtstun sei es zerstört worden.
Peter von Auvergne stützt sich bei diesen Überlegungen zum Teil auf den Fürstenspiegel „De regno ad regem Cypri" des Thomas von Aquin. Dort hatte Thomas bereits den klimatischen Determinismus relativiert und geographische Faktoren ins Spiel gebracht. Auch wenn somit eine deutliche Distanzierung gegenüber Klimatheorien erkennbar ist, ändert dies nichts an der Befürwortung von Sklaverei in Bezug auf die Unzivilisierten. Thomas beschränkt diese Übernahme der aristotelischen Argumentation nicht auf seinen Politikkommentar. Aus den letzten Lebensjahren stammt auch sein Kommentar zum Brief des Paulus an die Kolosser. Im dritten Kapitel verkündete Paulus den Einwohnern von Kolossai die universalistische Botschaft des Evangeliums: „Da ist nicht mehr Grieche oder Jude, Beschnittener oder Unbeschnittener, Barbar, Skythe, Sklave, Freier, sondern alles und in allen Christus." Thomas konterkariert die universalistische Botschaft mit einem durch Aristoteles inspirierten Kommentar:
„Barbar ist allgemein derjenige, der nicht in Beziehung zum Menschen als vernünftiges Lebewesen steht. Und daher sind jene Barbaren, die nicht durch Vernunft und Gesetze regiert werden; und daher sind Barbaren ihrer Natur nach Sklaven; und in Christus unterscheiden sie sich nicht, weil sie das Gesetz Christi haben, auch wenn sie nicht am bürgerlichen Recht teilhaben."
Für Thomas gibt es somit keinen Widerspruch zwischen der Gleichheit vor Christus und der naturrechtlichen Ungleichheit von Freien und Barbaren.
War Thomas somit ein Rassist? Unlängst wurde dies von dem Theologen Gaston LeNotre bestritten, ohne dass er den Kommentar zur „Politik" herangezogen hätte. LeNotre verweist stattdessen auf das universale Menschenbild des Thomas, das darin zum Ausdruck komme, dass er innerhalb der menschlichen Gattung keine weitere Klassifizierung nach Art oder Rasse zulässt. Phänotypische Unterschiede wie in der Hautfarbe sind für Thomas rein akzidenteller Natur. Weiß oder schwarz haben nichts mit der Form des Menschen, seiner Seele zu tun, sondern allein mit der Materie, die bei jedem Individuum einzigartig ist. Hautfarbe ist daher eine Eigenschaft des Individuums, nicht aber der Art. Thomas grenzt folglich den Menschen von Raben oder Schwänen ab, bei denen die schwarze bzw. weiße Farbe zur Definition der Art zählt. Thomas schreibt:
„Nichts verbietet es, dass Sokrates und Plato zur selben Art der Lebewesen zählen, aber in der Hautfarbe sich unterscheiden, wenn der eine weiß, der andere schwarz ist. Wie die schwarze Haut beim Äthiopier aus der Mischung der Elemente und nicht aus der Vernunft seiner Seele bedingt ist, so bleibt sie auch nach dem Tod in ihm."
Thomas kennt somit noch nicht die Klassifizierung des Menschen in Rassen jenseits der ihm vertrauten Klassifizierung nach Völkern. Wie bei seinen Zeitgenossen ist für Thomas das körperliche Aussehen der Menschen abhängig von verschiedenen Faktoren: vom Klima, vom Einfluss der Gestirne bei der Zeugung, von dem Verhältnis der vier Körpersäfte, von Nahrungsgewohnheiten und auch, aber nur nachrangig, vom Erbgut der Eltern.
Gleichwohl: Auch wenn Thomas die Vorstellung von Menschenrassen nicht kennt, finden wir genau die gedanklichen Bausteine, die im Zeitalter des Kolonialismus den Rassismus gegenüber der „unzivilisierten" indigenen Bevölkerung begründeten. Thomas übernimmt von Aristoteles die Rechtfertigung der Sklaverei als Ausdruck einer natürlichen Überlegenheit und verbindet dies mit der Abwertung der Barbaren als minderwertige Menschen, die an den Rändern der Welt leben und nicht an der Zivilisation teilhaben. Wenn man angesichts dessen dennoch zögert, Thomas als Rassisten zu qualifizieren, liegt dies am Fehlen eines genealogischen Dispositivs. Bei seiner Charakterisierung der Barbaren bleibt unklar, welche Rolle die Vererbung von körperlichen und geistigen Eigenschaften spielt. Die beiden primären Ursachen für die Rückständigkeit sind nach Thomas das Klima und die schlechte Gewohnheit: Das Klima wirkt sich auf den Körper aus, der schwach und träge wird, während schlechte Gewohnheiten zur Unvernunft und Gefühllosigkeit führen. Beide Ursachen scheinen auf den ersten Blick wenig mit Vererbung oder mit einer Verankerung im Körper zu tun zu haben. Doch für Thomas wie auch für die meisten Gelehrten seiner Zeit können Eigenschaften durchaus auch über die Eltern weitergegeben werden. Nach Thomas ist der Vater für die Vererbung der menschlichen Form und die Mutter für die Vererbung der menschlichen Materie verantwortlich. Wie sich bei Barbaren konkret Vererbung, Einfluss der Gestirne, Klima und andere externe Faktoren zueinander verhalten, bleibt bei Thomas unbeantwortet. Angesichts dessen erscheint es weder möglich, Thomas als Rassisten zu qualifizieren noch ihn von jeder rassistischen Tendenz freizusprechen.
Man muss aber nicht bei diesem „non liquet" stehenbleiben, wenn man den konkreten historischen Kontext betrachtet, in dem sich Thomas die Lehre von der natürlichen Sklaverei aneignet. Seine Positionierung erfolgt nämlich im Umfeld einer heftigen Auseinandersetzung um den Status der Philosophie und ihrer Protagonisten, der Artes-Magistri an den Universitäten. In diesem Milieu wurde der Intellektualismus des Aristoteles und seines arabischen Kommentators Averroes mit Begeisterung aufgenommen. Die Artisten machten die Vernunft zum Kennzeichen des Menschen und betrachteten den Gelehrten als die höchste Vollendung. Ende des 13. Jahrhunderts zirkulierte in ihren Werken die Aussage des Averroes, dass ungebildete Personen nur im uneigentlichen Sinne Menschen genannt werden können, und zwar so wie gemalte oder steinerne Menschen. Im Jahr 1277 reagierte der Bischof Étienne Tempier auf diese radikalen Stimmen unter den Artisten mit der berühmten Verurteilung von 219 Thesen. Eine davon lautet: „Es gibt keine ausgezeichnetere Lebensform als sich frei der Philosophie zu widmen."
Die Verurteilung konnte dem Intellektualismus jedoch nicht Einhalt gebieten. Auch nach 1277 huldigten die Artisten der Verherrlichung ihrer Profession und griffen dabei insbesondere auf die Schriften des Thomas von Aquin zurück. Während franziskanische Gelehrte wie Bonaventura und Johannes Duns Scotus die aristotelische Lehre der natürlichen Sklaverei ebenso zurückwiesen wie den Vorrang des Intellekts vor dem Willen, hatte Thomas als erster die Menschen nach ihren intellektuellen Fähigkeiten unterschieden. Die Lehre von der natürlichen Sklaverei fand dadurch Eingang in die Aristoteles-Kommentierung an den Universitäten.
Dabei war die Entscheidung, Aristoteles in dieser Weise zu deuten, bereits bei Thomas nicht ohne praktische Anwendung geblieben. In seiner „Summa contra gentiles" verwendet er die Klassifizierung in „tierische und unverständige" Menschen, um den Erfolg des Propheten Mohammed zu erklären. Mit dem Versprechen fleischlicher Genüsse hätte er die Völker angelockt, um sie von seinen lügenhaften Geschichten zu überzeugen. Menschen mit mittelmäßigem Verstand hätten seine Behauptungen sofort als eine Mischung von wahren und höchst falschen sowie märchenhaften Lehren durchschaut. Ihm seien aber nicht weise, in göttlichen und menschlichen Dingen geschulte Menschen gefolgt, sondern „bestialische", jeder göttlichen Lehre ermangelnde Wüstenbewohner, durch deren große Zahl die anderen mit Waffengewalt zum Glauben gezwungen worden seien. Die Diffamierung der frühen Muslime als „homines bestiales" ist nicht allein Ausdruck von Glaubensfeindschaft und religiöser Polemik. Thomas verweist damit auf eine Weltanschauung, die durch die kreative Aneignung des Aristoteles entstanden ist und in der die Menschheit in zwei Klassen unterteilt wurde: vernunftbegabte Menschen und natürliche Sklaven.
Mit den drei Beispielen wurde nur ein kleiner Ausschnitt aus den Forschungen zu Rassismus im Mittelalter thematisiert. Vorwiegend ging es um rassistische Diskurse der Überlegenheit und nur am Rande um rassistische Praktiken der Diskriminierung, wie sie im Verhältnis der Christen zu Juden und Muslimen gegenwärtig auf breiter Front erforscht werden. Gleichwohl ergeben sich aus den drei gewählten Schwerpunkten einige Schlüsse, die es sich lohnt, zu einem Gesamtbild zusammenzufügen.
- Der Nutzen des neuen Forschungsparadigmas beim Thema der Ethnizität und der Völkergeschichte des frühen Mittelalters liegt in der Fokussierung auf die Verankerung von Identitäten im Körper. Rassismustheorien können dazu beitragen, bei den Diskursen über fremde Völker die Aufmerksamkeit stärker auf körperliche Merkmale der Differenzierung zu lenken. Dies war jedoch bereits bisher ein zentrales Thema der Erforschung ethnischer Identitäten, ohne dass es dazu das theoretische Instrumentarium der Rassismusforschung bedurft hätte. Zudem ist im Deutschen wie eingangs erwähnt „Rasse" als ein Begriff von Rassisten festgelegt. Daher wird mit der Einführung des Begriffs Assoziationen Raum gegeben, die es erschweren, die Spezifik des frühmittelalterlichen Diskurses über ethnische Identitäten zu erfassen. Mit der Lehre von Menschenrassen, die bei dem Begriff immer mitschwingt, besteht nur eine sehr ferne Verwandtschaft. Dies bedeutet jedoch nicht, dass man strikt zwischen den beiden Kategorien Rasse und ethnischer Identität trennen sollte oder dass es nicht auch sinnvoll sein kann, übergreifende Kontinuitäten in der Markierung von Differenzen in den Blick zu nehmen.
- Die Aufmerksamkeit galt in der Forschung bislang vor allem der bildlichen Darstellung von Afrikanern und speziell der spektakulären Darstellung des heiligen Mauritius im Magdeburger Dom. Daneben gibt es eine breite Diskussion über die symbolische Bedeutung schwarzer Hautfarbe in der volkssprachigen Literatur, insbesondere im „Parzival" Wolframs von Eschenbach. Auf dieser Grundlage ist man sich einig, dass erst im 13. Jahrhundert die ausschließlich negative Bewertung dunkler Hautfarbe überwunden worden sei. Dabei sind allerdings die schriftlichen Quellen aus der lateinischen Literatur vernachlässigt worden. Der Bericht über die legendäre Vision Annos II., bei der der Erzbischof von der versammelten Schar von 360 heiligen Mauren entkleidet und verprügelt wurde, ist ähnlich spektakulär, wurde aber bislang in der Forschung zu Rassismus nicht wahrgenommen. Mehr Forschung ist nötig zu der Frage, ob für literarische Quellen des frühen und hohen Mittelalters ebenso eine Dämonisierung dunkler Hautfarbe festzustellen ist, wie sie für bildliche Quellen angenommen wird.
- Es ist unbestritten, dass Thomas von Aquin in der Geschichte von Sklaverei eine unrühmliche, ja sogar verheerende Rolle spielte. Mit seiner Übernahme der aristotelischen Lehre von der natürlichen Sklaverei prägte er nicht nur den Diskurs seiner eigenen Zeit, sondern übte auch großen Einfluss auf das Nachdenken über Unfreiheit in der Theologie und Kanonistik der iberischen Weltreiche aus. Gleichwohl ist die Charakterisierung als rassistisch deshalb schwierig, weil er nicht im Detail erörtert, wie natürliche Sklaven ihre Eigenschaften an ihre Nachkommen weitergeben. Seine Klassifizierung in vernunftbegabte und tierische Menschen gründet vor allem in einem Intellektualismus aristotelischer Prägung, der im 13. Jahrhundert tonangebend war. Zugleich schuf er damit eine Einteilung der Menschheit, die von der Zugehörigkeit zu Völkern unabhängig und für eine rassistische Interpretation offen ist. Für Thomas bestand kein Zweifel: Unzivilisierte Menschen haben inferiore geistige und körperliche Eigenschaften und sind gerechterweise Sklaven, ja sogar zu ihrem eigenen Nutzen.
Welche Folgerungen können aus diesen Beispielen für die Chancen und Grenzen des neuen Forschungsparadigmas gezogen werden? Zumindest im Deutschen ist der Begriff so eng mit der Lehre von den Menschenrassen verbunden, dass man sich dieser Assoziationen immer bewusst sein muss, wenn man ihn auf mittelalterliche Debatten über die menschliche Natur und über die Gliederung in Völker anwenden will. Das Spezifikum des Konzepts der Menschenrassen besteht darin, quer zu subjektiven Zugehörigkeiten und Fragen der Identität eine objektive Einteilung der Menschheit in Gruppen mit ähnlichen körperlichen Merkmalen aufgrund eines genealogischen Dispositivs zu begründen. Solche Vorstellungen sind jedoch mit der Philosophie, Anthropologie und Medizin sowie mit dem Geschichtsbild des Mittelalters nur schwer vereinbar. Erst seit dem 14. Jahrhundert ist in verschiedenen Bereichen – von der Medizin über die Adelskultur bis zur Jurisprudenz – eine Wende zum genealogischen Dispositiv zu erkennen. Dieser Entwicklung vollzog sich kaum zufällig gleichzeitig mit der Erfindung des Neologismus „race/raza" in den romanischen Sprachen. Damit sind wichtige Grundlagen geschaffen worden, die in der Frühen Neuzeit die Etablierung einer Vorstellung von Menschenrassen Vorschub leisteten.
Wenn man hingegen einen allgemeineren Begriff von Rasse als Kategorie der Differenz zugrunde legt, ist es möglich, neue Kontinuitäten zur Gegenwart sichtbar zu machen, die bislang der Aufmerksamkeit entgangen sind. Das Buch von Geraldine Heng liefert dafür breites Anschauungsmaterial. In diesem Sinn ist das neue Forschungsparadigma ein wichtiges heuristisches Instrument. Die critical race theory hat uns bewusst gemacht, dass auch dort, wo nicht explizit von „Rasse" die Rede ist, rassistische Praktiken und Diskurse vorherrschend sein können. Wenn der Blick auf diesen unterschwelligen, versteckten Rassismus gelenkt wird, kann dieser Zugriff fraglos neue Einblicke verschaffen – auch für die Geschichte des Früh- und Hochmittelalters. Allerdings sollte eine bestimmte begriffliche Schärfung durch einen Bezug auf physische Erscheinung und genealogische Abstammung vorgenommen werden, wie es mit unterschiedlichen Akzenten Nirenberg, Schaub und Whitaker vorgeschlagen haben. Im Fall der Wahrnehmung der Ungarn ist dies insofern der Fall, als der schlechte Charakter mit ihrer Herkunft von einem Volk der Hexen und Giftmischer begründet wurde. Bei Thomas von Aquin ist der Befund eindeutiger, auch wenn die konkreten Mechanismen der Verankerung in Natur und Körper von ihm nicht ausbuchstabiert wurden.
In der US-amerikanischen Mediävistik rückte die Diskussion um Rassismus im Mittelalter, die vor etwas mehr als 20 Jahren begonnen hatte, zuletzt in den Mittelpunkt des Interesses. Die critical racetheory war dafür eine wichtige Inspirationsquelle, weil sie die Aufmerksamkeit auf implizite und indirekte Formen der sozialen, politischen und rechtlichen Ausgrenzung lenkte und es dadurch möglich machte, die Geschichte rassistischer Diskriminierung weiter als bisher üblich zu fassen. Der Aufsatz gibt einen Überblick über diese Diskussion, über die divergierenden Positionierungen sowie über die Verständnisschwierigkeiten zwischen unterschiedlichen Forschungstraditionen. Im Hauptteil werden drei Beispiele aus dem frühen und hohen Mittelalter herausgegriffen, um das Potential und die Grenzen dieses neuen Forschungsparadigmas zu erörtern: die Wahrnehmung der Ungarn, die Verehrung schwarzer Heiliger und die Herausbildung der Lehre von der natürlichen Sklaverei. Diese Beispiele zeigen, dass ein weiter Begriff von Rasse, der sich auf die Essentialisierung kultureller Unterschiede bezieht, zwar neue historische Kontinuitäten aufdecken, aber auch zu Missverständnissen Anlass geben oder die Spezifik mittelalterlicher Phänomene verdecken kann. Eine Begrenzung des Konzepts auf die Ausgrenzung aufgrund der Abstammung und des Aussehens erscheint daher ebenso notwendig wie der Bruch mit der Auffassung, das Mittelalter sei eine rassismusfreie Epoche gewesen.
Für Hinweise und Kritik danke ich Thomas Ertl, Stefan Esders und Frank Rexroth; die Einwände des anonymen Gutachtens waren ebenfalls sehr hilfreich.
By Karl Ubl
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