Basierend auf Behauptungen ostdeutscher Historiker hat sich in der Geschichtsschreibung das Bild verfestigt, das nationalsozialistische Jugendschutzgesetz sei allein aus militärischen Gründen erlassen worden. Dabei gibt es zu diesem Gesetz kaum Forschungen, die auf einem breiten Quellenfundament ruhen. Der Beitrag geht von diesem Problem aus und unterzieht die Genese des Jugendschutzgesetzes einer umfassenden Analyse. Dabei verdeutlicht der Autor, dass Sozialpolitik im Dritten Reich nicht der Umverteilung finanzieller Lasten diente, sondern der wirtschaftlichen Kriegsvorbereitung, der Wehrhaftmachung der Bevölkerung, der Schaffung einer „Volksgemeinschaft" durch Inklusion und Exklusion, der Propaganda und schließlich der politischen Indoktrination.
Based on assertions by East German historians, the view that the National Socialist Protection of Young Persons Act was solely enacted for military reasons predominates historiography. There has, however, hardly been any research on this law founded on a broad source base. The article uses this problem as a starting point and subjects the genesis of the Youth Protection Law to a comprehensive analysis. Here the author makes clear, that the social policies of the Third Reich did not facilitate the redistribution of financial burdens, but rather economic preparations for war, the militarisation of the population, the creation of a Volksgemeinschaft through inclusion and exclusion, propaganda and finally political indoctrination.
Keywords: Youth Protection Act; social policy; Hitler Youth; Artur Axmann; German Labour Front; Reich Ministry of Labour
Wo lagen die Beweggründe der NS-Führung, im April 1938 mit dem Jugendschutzgesetz ein Regelwerk in Kraft zu setzen, das sich als Musterbeispiel nationalsozialistischer Sozialpolitik anpreisen ließ und dessen Bestimmungen in der Bundesrepublik zum Teil noch bis 1960 Anwendung fanden? Lukas Grawe zeichnet auf breiter Quellenbasis die Entstehung dieses Gesetzes nach, nimmt mit der Reichsjugendführung, der Deutschen Arbeitsfront und dem Reichsarbeitsministerium zentrale Akteure in den Blick und lässt keinen Zweifel am Primat militärisch-ideologischer Motive. Spätestens seit 1935/36 waren Arbeitsschutz und Wehrhaftmachung der Jugend zwei Seiten derselben Medaille. Die Wehrmachtführung setzte dagegen – überraschend – andere Schwerpunkte: Sie machte sich wiederholt für einen verstärkten Arbeitseinsatz der Jugendlichen stark, damit die Industrie die Rüstungswünsche der Wehrmacht erfüllen könne.
„Jugendschutz ist Volksschutz. Alle Jugendlichen zu seelisch und körperlich gesunden Volksgenossen zu erziehen, ist völkische Notwendigkeit und nationalsozialistische Pflicht. Es ist der Wille der Reichsregierung, der deutschen Jugend Schutz und Förderung zuteil werden zu lassen und damit ihre Leistungsfähigkeit zu steigern." Mit diesem für die nationalsozialistische Gesetzgebung typischen „Vorspruch" führte die Reichsregierung am 30. April 1938 das „Gesetz über Kinderarbeit und die Arbeitszeit der Jugendlichen" ein, das am 1. Januar 1939 in Kraft trat. Im Vergleich zum bisherigen Recht bedeutete es einen großen Fortschritt: Erstmals fasste es die in der Arbeitszeitordnung, im Gesetz über die Kinderarbeit von 1903, in der Gewerbeordnung und im Heimarbeitsgesetz bestehenden Jugendschutzbestimmungen in einem Gesetz zusammen und sorgte damit für wesentlich mehr Klarheit und Übersichtlichkeit.
Das Schutzalter wurde durch das Gesetz von 16 auf 18 Jahre erweitert. Da der Begriff Jugendlicher somit weiter gefasst wurde, trafen die Bestimmungen zur Arbeitszeit fortan auch auf die 16- und 17-Jährigen zu, wobei die Wochenarbeitszeit 48 Stunden nicht überschreiten durfte. Arbeit von Kindern, die jünger waren als 14 Jahre, wurde gänzlich verboten. Die Bestimmungen galten nunmehr für alle Kinder und Jugendliche in einem Lehr- oder Arbeitsverhältnis unabhängig von der Größe des Betriebs. Erstmals wurde zudem die Unterscheidung zwischen eigenen und fremden Kindern fallengelassen, so dass Kinder und Jugendliche auch in elterlichen Betrieben den Arbeitszeitbeschränkungen des Gesetzes unterlagen. An Sonn- und Feiertagen bestand ein Beschäftigungsverbot. Zudem erhielten Jugendliche erstmals auch einen Erholungsurlaub von 12 beziehungsweise 15 Tagen.
Die fortschrittlichen Bestimmungen des Gesetzes, die in der Bundesrepublik zum Teil noch bis 1960 galten, waren auch darin begründet, dass sich der NS-Staat als Verkörperung des jungen Deutschland verstand. „In seiner Selbstdarstellung spielte das Motiv des Jugendlich-Zupackenden und Zukunftweisenden eine beherrschende Rolle." Die deutsche Jugend fungierte gewissermaßen als Kraftquelle für das Deutsche Reich und war daher für das NS-Regime der wichtigste Träger einer „politisch-soldatischen Zukunftsgestaltung". Damit bildete sie aus Sicht der Nationalsozialisten die mit Abstand wichtigste Bevölkerungsgruppe des sogenannten neuen Deutschland. Adolf Hitler selbst griff in zahlreichen Reden den Stellenwert der Jugend auf und bezeichnete sie als des „Volkes Weiterleben" oder als „Bauherr[n] eines neuen völkischen Staates". Es sei herrlich, betonte der Diktator 1934, „über diese goldene Jugend zu blicken, von der man weiß: Sie ist einst Deutschland, wenn wir nicht mehr sein werden! Sie wird all das erhalten, was wir schaffen und aufbauen. Für sie arbeiten wir. Das ist der Sinn des ganzen Ringens überhaupt!"
Trotz der progressiven neuen Richtlinien besaß das Gesetz aber auch einige Schwächen. Nach wie vor galt es nicht für alle Jugendlichen, sondern ließ die Beschäftigten in der Land- und Forstwirtschaft – traditionell eine der größten Gruppen – außen vor. Außerdem waren Juden, Sinti und Roma sowie während des Kriegs auch jugendliche polnische Arbeiter und solche aus den besetzten Ostgebieten von den Schutzbestimmungen ausgeschlossen. Zudem wurden die recht weitgehenden Bestimmungen durch zahlreiche Ausnahmeregelungen zugunsten der Arbeitgeber durchlöchert, so dass die Schutzklauseln meist nur auf dem Papier standen. Bereits neun Monate nach Inkrafttreten setzte die Regierung zu Beginn des Zweiten Weltkriegs das Jugendschutzgesetz nahezu vollständig außer Kraft, um die Rüstungs- und Kriegsproduktion nicht durch bremsende Arbeitsschutzmaßnahmen zu behindern.
Jürgen Kuczynski, Wirtschaftshistoriker in der DDR, führte 1958 ein weiteres negatives Argument ins Feld und verwies auf die angeblich rein militärischen Motive, die 1938 zum Erlass des Jugendschutzgesetzes geführt hätten. Dieses habe ausschließlich der Stärkung der Produktions- und Wehrkraft des Dritten Reichs dienen sollen. Um diese Ziele zu erreichen, „wurde wirklich einiges für die Kinder und die Jugend unter dem Faschismus getan. So wie die Hexe im Märchen Hänsel und Gretel fütterte, damit sie um so fetter wären, wenn sie sie verspeisen würde – so wurde die Jugend ‚ertüchtigt', damit sie im Weltkrieg um so mehr für das Monopolkapital leisten konnte." Nachfolgende Veröffentlichungen aus Ost- und Westdeutschland über die NS-Sozialpolitik oder über den Jugendschutz in Deutschland griffen Kuczynskis Urteil meist übereinstimmend auf. Allerdings verzichteten die meisten Autoren auf eine Analyse der Genese des Gesetzes; ihre Urteile fußen damit auf einem unsicheren Fundament. Ob es neben militärischen auch wirtschaftliche oder soziale Beweggründe gab, die zur Verabschiedung des Jugendschutzgesetzes beitrugen, ist daher nach wie vor nicht hinreichend erforscht.
Der vorliegende Aufsatz greift die Frage auf, ob das NS-Jugendschutzgesetz tatsächlich allein oder überwiegend aus militärischen Gründen erlassen worden ist. Diese These erscheint zunächst durchaus plausibel, schließlich kann der Jugendarbeitsschutz als Teil der „sozialen Kriegsrüstung" verstanden werden. Sozialpolitik spielt in diesem Konzept eine wichtige Rolle bei der militärischen Vorbereitung eines Konflikts. Für das NS-Regime hat die historische Forschung bereits herausgearbeitet, dass der Krieg als „Zielsituation" der nationalsozialistischen Jugenderziehung von Anfang an mit eingeplant war. Auch abseits des Jugendarbeitsrechts hatten hochrangige NS-Parteifunktionäre wie der Leiter der Deutschen Arbeitsfront (DAF), Robert Ley, wiederholt gefordert, die Lehren aus dem Ersten Weltkrieg zu ziehen und der deutschen Bevölkerung sozialpolitisch entgegenzukommen, um sich in entbehrungsreichen Kriegszeiten auf diese Weise ihrer Loyalität zu versichern. Sozialpolitisches Engagement sollte darüber hinaus davon ablenken, dass die NS-Regierung zahlreiche Errungenschaften des Weimarer Wohlfahrtsstaats rückgängig gemacht und tief in das Arbeitsrecht eingegriffen hatte. Neben der Auflösung der Gewerkschaften sind hier vor allem der Abbau der Freiheiten der Arbeitsvertragsparteien, die Beschneidung der Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer sowie die Einschränkung der Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt zu nennen.
Dass militärische Motive grundsätzlich Einfluss auf die Entstehung und Entwicklung moderner Wohlfahrtsstaaten ausgeübt haben, wurde in der historischen Forschung lange ausgeblendet und ist auch jetzt noch nicht zur Opinio communis geworden. Sozialwissenschaftliche Studien lassen aber keinen Zweifel daran, dass solche Zusammenhänge bestanden haben und in vielen Staaten auch heute noch bestehen. Darauf aufbauend soll im Folgenden zunächst geprüft werden, ob militärische Motive die Jugendschutzbestimmungen bereits vor der NS-Zeit beeinflusst hatten, bevor es gilt, die Genese des Gesetzes von 1938 nachzuzeichnen. Wer war an der Entstehung beteiligt? Welche Motive führten die Hauptakteure für ihren Einsatz auf dem Feld des Jugendschutzes an? Abschließend soll die weitere Entwicklung des Jugendschutzgesetzes bis 1945 untersucht werden, wobei mögliche militärische Motive von besonderem Interesse sind. Dahinter steht nicht zuletzt die Frage, inwieweit sich am Beispiel der Jugendschutzgesetzgebung die allgemeinen Ziele der NS-Sozialpolitik aufzeigen lassen.
Die preußisch-deutsche Jugendschutzgesetzgebung geht auf das preußische „Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken" zurück, das König Friedrich Wilhelm III. am 9. März 1839 erließ. Es reglementierte und begrenzte zum ersten Mal die grassierende Kinderarbeit, indem es die Beschäftigung von Kindern verbot, die noch keine neun Jahre alt waren. Dass dieses Gesetz zustande kam, lag nicht zuletzt an Generalleutnant Heinrich Wilhelm von Horn, dessen Bericht den König 1828 zur Abfassung einer berühmten Kabinettsordre veranlasst hatte. Darin hieß es:
„Der Generallieutenant von Horn bemerkt in seinem Landwehrgeschäftsberichte, daß die Fabrikgegenden ihr Kontingent zum Ersatze der Armee nicht vollständig stellen können [...], und erwähnt dabei des Übelstandes, daß von den Fabrik Unternehmern [sic!] sogar Kinder in Masse des Nachts zu den Arbeiten benutzt werden. Ich kann ein solches Verfahren um so weniger billigen, als dadurch die physische Ausbildung der zarten Jugend unterdrückt wird und zu besorgen ist, daß in den Fabrikgegenden die künftige Generation noch schwächer und verkrüppelter werden wird, als es die jetzige schon sein soll."
Ähnlich wie beim Jugendschutzgesetz von 1938 stellte Kuczynski auch beim preußischen Regulativ den Zusammenhang zwischen Jugendschutz und militärischen Motiven her; damit verhalf er der „Kanonenfutter-These" zu Popularität. Der Horn-Bericht galt seither als Beleg für einen allumfassenden preußischen Militarismus, obwohl die Quelle diese Interpretation nicht trägt. Tatsächlich spielte das militärische Argument bei der Entstehung des Regulativs von 1839 nur eine untergeordnete Rolle, wie Wilfried Feldenkirchen überzeugend nachgewiesen hat. Zum einen wurden bis zu den Einigungskriegen jährlich weniger Rekruten eingezogen, als tauglich gemustert wurden. Die preußische Armee konnte sich demnach aus einem Pool von Tauglichen bedienen, so dass der Bedarf an Soldaten selbst dann gesichert war, wenn Wehrpflichtige infolge von Kinderarbeit in größerer Zahl ausfielen. Zum anderen war der Anteil der als untauglich Gemusterten in den letzten zehn Jahren vor Erlass des Regulativs von neun auf sechs Prozent gesunken. Dennoch wirkte der Horn-Bericht nach. Wann immer neue Jugendschutzmaßnahmen zur Diskussion standen, wurde die Sorge des Generals um die Gesundheit der Rekruten aufgegriffen. Wie noch zu zeigen sein wird, spielte der Horn-Bericht auch bei der Genese des Jugendschutzgesetzes von 1938 eine Rolle.
Die weitere Jugendschutzgesetzgebung in Preußen kam zunächst ohne militärische Argumente aus. Weder bei der Erweiterung des Regulativs im Jahr 1853 noch bei der Implementierung der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bunds von 1869 spielten militärische Fragen eine Rolle. Erst nach der Reichseinigung stellten einige Reichstagsabgeordnete erneut einen Zusammenhang zwischen Tauglichkeit und Jugendschutzmaßnahmen her. So betonte Max Hirsch, sozialliberaler Abgeordneter der Deutschen Fortschrittspartei und Mitbegründer der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, im Mai 1878: „In der alten guten preußischen Fabrikgesetzgebung, auf welche wir uns immer noch stützen, war es gerade die Rücksicht auf die allgemeine Wehrpflicht, auf die Wehrhaftigkeit des Volks, welche dahin führte, die jugendliche Arbeit in den Fabriken zu beschränken."
Selbst die Sozialdemokratie, im Kaiserreich ansonsten für ihre ausgewiesene Militarismuskritik bekannt, scheute sich nicht, mit Hilfe militärischer Argumente einen besseren Arbeitsschutz für Kinder und Jugendliche zu fordern. So betonte August Bebel 1885 im Reichstag:
„Denn, meine Herren, wenn unsere Fabrikbevölkerung so rasend rasch ihrer physischen Degeneration entgegengeht, wenn die militärischen Aushebungstabellen zeigen, wie die Bevölkerung von Jahr zu Jahr mehr und mehr degenerirt [sic!], wie die Zahl der zum Militär Tauglichen immer geringer wird, dann ist ganz wesentlich – das wird jeder Sachverständige bestätigen – hauptsächlich die Kinderarbeit in den Fabriken daran schuld, weil damit schon von früher Jugend an bereits der Keim zur Zerrüttung des Körpers gelegt wird."
Ungeachtet der vielstimmigen Plädoyers für mehr Arbeitsschutz blieben weitreichende Reformen in der Ära Bismarck aus. Der Reichskanzler wehrte sich bis zu seinem Rücktritt erfolgreich gegen die Einführung zusätzlicher gesetzlicher Maßnahmen.
Neuer Schwung kehrte in die Jugendschutzgesetzgebung erst im Zuge des sogenannten Neuen Kurses ein, den Kaiser Wilhelm II. 1890 proklamierte. Im preußischen Staatsrat sprach sich mit Wilhelm von Blume erstmals seit dem Horn-Bericht wieder ein ranghoher Militär für einen besseren Jugendschutz aus, um die Wehrkraft Deutschlands auch künftig zu erhalten. Im Zuge der Reichstagsdebatten über ein neues Arbeitsschutzgesetz spielte das militärische Argument eine wichtige Rolle, wobei mehrfach auf die vermeintlich sinkenden Rekrutenzahlen infolge von Fabrikarbeit hingewiesen wurde. Das neue „Arbeiterschutzgesetz" wurde schließlich am 8. Mai 1891 in Form einer Novelle der Gewerbeordnung verabschiedet. In bestimmten Industriebetrieben durften Arbeiter fortan nicht mehr an Sonn- und Feiertagen arbeiten, Frauen und Kindern wurde die Nachtarbeit untersagt, Kindern unter 13 Jahren war jegliche Arbeit verboten, Kinder zwischen 13 und 14 Jahren durften fortan maximal sechs Stunden täglich, Jugendliche ab 16 Jahren maximal zehn Stunden täglich arbeiten.
Tatsächlich schränkten die bisherigen Gesetze lediglich die Kinderarbeit in Fabriken ein, ließen aber die Beschäftigung von Jugendlichen in der Landwirtschaft oder in der Heimarbeit völlig außer Acht. Eine auf Initiative der deutschen Lehrerschaft durchgeführte Reichsenquete über den Umfang der gewerblichen Kinderarbeit abseits der Industrie förderte besorgniserregende Zahlen zutage und gab den Anstoß zu weiteren gesetzlichen Maßnahmen. Die letzten wesentlichen Verbesserungen des Jugendarbeitsschutzes vor dem Ersten Weltkrieg erfolgten 1903 mit dem Kinderschutzgesetz, dessen Bestimmungen nicht mehr nur arbeitende Kinder in Fabriken, sondern auch in weiteren gewerblichen Betrieben betrafen. Allerdings blieb die Land- und Forstwirtschaft von den Einschränkungen nach wie vor befreit. Außerdem unterschied das Gesetz zwischen eigenen und fremden Kindern. Eigenen Kindern konnten Eltern ein höheres Arbeitspensum zumuten, ohne Strafen fürchten zu müssen.
Auch wenn in den Jahren 1902/03 die Folgen der Kinderarbeit für das Bildungsniveau im Mittelpunkt der Reichstagsdebatten standen, kam wiederholt das Argument zur Sprache, die Erwerbsarbeit Minderjähriger wirke sich negativ auf ihre Tauglichkeit aus. Gleichwohl war aus den Reihen der Konservativen die Bemerkung zu hören, dass die Beschäftigung von Kindern in der Landwirtschaft der Wehrkraft nicht schade, sondern sogar förderlich für Physis und Gesundheitszustand sei. Militärische Argumente waren demnach zwar präsent, jedoch keinesfalls das Hauptmotiv für gesetzliche Verbesserungen.
Nach dem Kinderschutzgesetz wurden bis 1914 keine größeren Arbeitsschutzgesetze mehr erlassen. Stattdessen erfuhr der Jugendarbeitsschutz im Zuge der am 4. August 1914 verabschiedeten Notgesetze zu Beginn des Ersten Weltkriegs eine wesentliche Einschränkung. Die dadurch geschaffene Möglichkeit, Ausnahmen von den Arbeitsschutzbestimmungen zuzulassen, soweit sie Frauen, Kinder und Jugendliche betrafen, wurde von der Industrie weidlich genutzt. Die Ausnahmebestimmungen blieben bis Kriegsende in Kraft und waren eine wesentliche Quelle für die wachsende soziale Unzufriedenheit der Arbeiterschaft in der Rüstungsindustrie. Trotz der Rückschritte hatten jedoch mittlerweile auch Teile des wirtschaftsliberalen Bürgertums den militärischen Wert sozialpolitischer Maßnahmen erkannt. Selbst das Militär gab sich entgegenkommend, um die Loyalität der Arbeiterschaft zu sichern.
Nach Kriegsende wurden die Kinder- und Jugendschutzbestimmungen wieder in Kraft gesetzt; auch für die unter 18-Jährigen galt der achtstündige Arbeitstag. Die Gesetzgebung der Weimarer Republik fokussierte sich davon abgesehen jedoch vor allem auf den sogenannten sittlichen Jugendschutz, während im Bereich des Arbeitsschutzes für Kinder und Jugendliche keine Fortschritte erzielt wurden. Militärische Argumente spielten keine Rolle, zumal der Versailler Vertrag dem Deutschen Reich strenge Restriktionen auferlegte und die allgemeine Wehrpflicht der Vergangenheit angehörte.
Fasst man die Motive für die Kinder- und Jugendschutzgesetzgebung bis 1933 zusammen, fällt dennoch die Kontinuität militärischer Argumente auf, wobei diese vor allem nach der Reichsgründung vorgebracht wurden. Als entscheidender Beweggrund für legislative Initiativen können sie freilich nicht gelten. Nach Dirk Thies waren es vor allem wirtschaftliche Erfordernisse, die, flankiert von pädagogischen Erwägungen und der technischen Entwicklung, die Kinder- und Jugendschutzgesetzgebung bedingten. Letztlich habe der Gesetzgeber aber eine „Geschichte sozialer Ignoranz und politischer Halbherzigkeiten" geschrieben. Als Befund lässt sich trotzdem festhalten, dass militärische Motive bei der Verabschiedung von Schutzbestimmungen für Kinder und Jugendliche auf eine lange Tradition zurückblicken konnten und daher auch eine gewisse Wirkmächtigkeit besaßen. Das NS-Regime konnte demnach auf bereits bestehende Argumentationsmuster zurückgreifen.
Die Bestimmungen zum Jugendarbeitsschutz, die 1933 bei Hitlers Ernennung zum Reichskanzler bestanden, fußten im Wesentlichen noch auf dem Kinderschutzgesetz von 1903. Dem NS-Regime bot sich auf diesem Feld daher eine willkommene Möglichkeit, als Anwalt des sozialen Fortschritts sowie der vermeintlich entrechteten und ausgebeuteten Jugend aufzutreten. Schon das NSDAP-Parteiprogramm von 1920 hatte die Forderung nach einem besseren Jugendschutz erhoben, da der Staat mithilfe eines Verbots der Jugendarbeit für eine „Hebung der Volksgesundheit" zu sorgen habe. Die NS-Presse formulierte: „Wir beanspruchen nicht, daß wir als erste die Forderung nach Jugendschutz erhoben haben. Wir beanspruchen aber, daß uns der Primat in der Erfüllung zufällt." Dass die Regierung Hitler indes zunächst wenig Hemmungen hatte, der Jugend allerlei Dienstverpflichtungen aufzuerlegen und sie als „arbeitsmarktpolitische Manövriermasse" zu betrachten, verschwieg die Propaganda hingegen.
Unter den Akteuren, die bereits kurz nach der „Machtergreifung" eine Reform des Jugendarbeitsschutzes forderten, gab es mit der Reichsjugendführung eine Institution, die sowohl Reichsbehörde wie auch Teil des Parteiapparats der NSDAP war und gewissermaßen als „Jugendministerium" des Deutschen Reichs fungierte. Der Reichsjugendführung stand dabei die Deutsche Arbeitsfront (DAF) zur Seite, allen voran ihr Jugendamt. Um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu erhöhen und die Loyalität der Bevölkerung – vor allem der Arbeiterschaft – zum Regime zu sichern, setzte sich die DAF von Anfang an für sozialpolitisches Entgegenkommen ein. Reichsjugendführer Baldur von Schirach und Reichsleiter Robert Ley kamen daher rasch überein, dass der Chef des Jugendamts der DAF zugleich als Referent in der Reichsjugendführung wirken sollte, um so Ressortstreitigkeiten zu vermeiden. Mit ihren zahlreichen Vertrauensmännern in den einzelnen Betrieben, den sogenannten Betriebsjugendwaltern, war die DAF in der Lage, weitergehenden gesetzlichen Bestimmungen gewissermaßen den Boden zu bereiten.
Neben der Gesundheitsführung der Jugendlichen, einer Umgestaltung der Berufsausbildung sowie der Einführung einer Berufsberatung und eines Reichsberufswettkampfs stand ein neues Jugendschutzgesetz ganz oben auf der Agenda. Wiederholt hatten regionale Ableger der Reichsjugendführung und der DAF seit 1933 weiterreichende Arbeitsschutzbestimmungen für Jugendliche gefordert. Besonders das Soziale Amt der Reichsjugendführung unter Artur Axmann setzte sich für ein neues Jugendarbeitsschutzgesetz ein. Bereits im Jahr 1934 zu einem „sozialpolitischen Instrument ersten Ranges" geworden, bildete das Soziale Amt mit Abstand die größte Abteilung der Reichsjugendführung und verfügte dort über die meisten Ressortzuständigkeiten. Es sollte nicht nur die Gesundheitsführung der Jugendlichen überwachen und gewährleisten, sondern auch alle Maßnahmen zusammenfassen und koordinieren, die mit dem sozialen Leben der Jugend zusammenhingen.
Folglich fiel die Vorbereitung für einen umfassenderen Jugendarbeitsschutz in Axmanns Ressort, der fortan wiederholt öffentlich für schärfere Bestimmungen warb und dabei auch auf die Unterstützung durch die Propagandazeitung der Hitlerjugend (HJ) Das junge Deutschland zählen konnte. Axmann war seit seiner Jugend in der HJ aktiv und hatte sich bereits vor 1933 für einen längeren und gesetzlich geregelten Urlaub für jugendliche Arbeiterinnen und Arbeiter ausgesprochen. Das Engagement der Reichsjugendführung stand in der Frühphase des Dritten Reichs jedoch noch unter dem Postulat der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Angesichts von sechs Millionen Arbeitslosen im Jahr 1933 lag der Schwerpunkt auf ökonomischen und erzieherischen Gesichtspunkten und auf Initiativen, die disparaten Jugendarbeitsschutzbestimmungen zusammenzufassen. Militärische Argumente für einen besseren Jugendschutz wurden dabei zunächst nicht vorgebracht.
Das Fehlen militärischer Argumentationsmuster und Motive lässt sich vor allem anhand der Beratungen des Jugendrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht belegen. Dieser war Ende 1934 ins Leben gerufen worden und sollte in den Bereichen Jugendarbeitsrecht, Jugendpflegerecht und Jugendstrafrecht neue Gesetzesentwürfe erarbeiten. Neben Axmann als Leiter des Sozialen Amts gehörten dem Ausschuss auch Vertreter der Reichsministerien, der Wirtschaft und der DAF an. Im Rahmen der ersten Sitzung des Jugendrechtsausschusses am 2. Dezember 1934 führten der Präsident der Akademie Hans Frank und Reichsjugendführer Schirach mit programmatischen Reden in die Aufgaben der Institution ein. Nachdem Frank betont hatte, dass „das Ringen um die Jugend stets eine der wesentlichsten Aufgaben des Nationalsozialismus gewesen sei und daß die neue deutsche Jugend das Recht auf Fürsorge, Arbeit und Schutz erhalten müsse und diese Forderungen im nationalsozialistischen Staate zu fundieren seien", erläuterte Schirach weiter, dass „die von dem Jugendrechtsausschuß zu behandelnden Aufgaben darin zu bestehen hätten, eine gesetzgeberische Grundlage zu schaffen, auf welcher auch die selbständige Kraft, die in dieser Jugend wohnt, entfaltet werden kann". Militärische Argumente waren im Rahmen der ersten Sitzung des Ausschusses ebenso wenig zu vernehmen wie im Publikationsorgan der Hitlerjugend. Hier forderte man zwar vehement einen besseren Jugendschutz, begründete die Notwendigkeit dazu jedoch in erster Linie wirtschaftlich: Ein weiterreichender Arbeitsschutz habe eine körperliche und seelische Entlastung der Jugendlichen zur Folge, die sich positiv auf ihre Arbeitsproduktivität auswirke.
Erst im unmittelbaren Vorfeld der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht am 16. März 1935 rückten zunehmend auch militärische Argumente für einen umfangreicheren Jugendschutz in den Fokus. Schließlich hatte sich eine kleine Berufsarmee wie die Reichswehr ihre Soldaten aus einem großen Angebot an tauglichen Bewerbern aussuchen können, während eine Wehrpflichtarmee, die theoretisch die gesamte männliche Bevölkerung erfassen sollte, auf ein möglichst gesundes Volk angewiesen war. Den Anfang machte der Staatssekretär im Reichsjustizministerium und spätere Präsident des Volksgerichtshofs Roland Freisler im Rahmen der Sitzung des Jugendrechtsausschusses am 25. Februar 1935. Eine Umgestaltung des gesamten Jugendrechts müsse durchgesetzt werden, „um der Jugend, der ungeborenen wie der geborenen, die Möglichkeit zu geben, ihren Platz als bessere Arbeiter, bessere Mütter, bessere Männer, bessere und vollkommenere und tüchtigere Soldaten, als wir es sind, im Volksleben einnehmen zu können". Schließlich müsse die Jugend „zum Arbeitertum, zum Soldatentum, zur Mutterschaft" tüchtig gemacht werden, um eines Tages „in den Lebenskampf des Volkes als aktives Glied dieses Volkes" einzutreten. Neben dem wirtschaftlichen Argument griff Freisler damit erstmals auch militärische Motive auf. Zudem wies er auf die gestiegene Bedeutung der Bevölkerungspolitik hin. War die Geburtenrate des Deutschen Reichs noch vor der Jahrhundertwende kontinuierlich gestiegen, so war sie seit 1900 rapide zurückgegangen. Dieser Rückgang war durch den Ersten Weltkrieg noch verschärft worden und hatte zeitweise zu wachsenden Ängsten vor einem nahenden „Volkstod" der deutschen „Rasse" geführt. Eine pronatalistische Politik flankierte daher die Bestrebungen zur Umsetzung der NS-Rassenpolitik und zur Hebung der Qualität der Bevölkerung.
Auch die Wehrmacht ergriff das Wort. So argumentierte Oberstabsarzt Karl Walther im HJ-Organ Das junge Deutschland, die Wiederherstellung der Wehrhoheit verpflichte
„diejenigen, denen die Jugend, der künftige Wehrmachtersatz, anvertraut ist, zu besonderer Sorgfalt und Umsicht bei den ihnen obliegenden Aufgaben während der Berufserziehung: zu verstärktem Gesundheitsschutz, zu Maßnahmen der Erhaltung und Steigerung der Leistungsfähigkeit und Förderung der körperlichen und geistigen Entwicklung der Jugend".
Je besser es gelinge, die Gefahren des Berufs von den Jugendlichen fernzuhalten, desto größer seien die Aussichten, dass die Wehrmacht künftig aus einem Reservoir gesunder Rekruten schöpfen könne. „Forderungen nach verstärktem Jugendlichen-Schutz haben also nicht nur gewerbehygienische und soziale, sondern auch wehrpolitische Bedeutung und Berechtigung. Jugendschutz und Wehrdienst sind eng miteinander verknüpft."
Unterstützung erfuhr Walther dabei von Oberfeldarzt Hans Müller. Dieser wertete in den Jahren 1936 und 1937 die Musterungsergebnisse aus und stufte dabei mehr als 75 Prozent der Rekruten als grundsätzlich tauglich ein. Doch auch dieses aus Sicht der Wehrmacht erfreuliche Ergebnis hielt den Mediziner nicht davon ab, angesichts der hohen Zahl an Gliedmaßenverletzungen einen besseren Arbeitsschutz und eine modernere Arbeitssicherung an den Maschinen zu fordern. In einer Ressortbesprechung im Reichsarbeitsministerium (RAM) regte der Vertreter des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamts Anfang 1937 an, auch die betriebliche Sicherstellung einer ausreichenden Ernährung der Jugendlichen in neue gesetzliche Regelungen einzuarbeiten. Davon abgesehen mischte sich die Wehrmachtführung jedoch nicht in die Jugendschutzdebatten ein, auch wenn die Nationalsozialistische Parteikorrespondenz behauptete, die „verantwortlichen Sanitätsstellen der Wehrmacht" hätten „erst kürzlich ihr Interesse an einer angemessenen Berufsbeanspruchung der Jugendlichen zum Ausdruck gebracht". Reichskriegsminister Werner von Blomberg richtete den Fokus beispielsweise lieber auf die vormilitärische Ausbildung der Jugendlichen. In der Regel erblickte die Wehrmacht in tiefergehenden Arbeitsschutzbestimmungen eher ein Hemmnis für die wirtschaftliche Kriegsvorbereitung und das ehrgeizige militärische Aufrüstungsprogramm. Dass Sozialpolitik im Rahmen der „sozialen Kriegsrüstung" ebenfalls die Wehrkraft erhöhen konnte, blieb den meisten Militärs noch verborgen. Einspruch gegen das neue Jugendschutzgesetz erhob die Wehrmachtführung aber nicht.
Für einen umfassenderen Jugendschutz setzten sich vor allem Mediziner ein. Nach Arthur Gütt – eifriger Verfechter des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" und Leiter der Abteilung Volksgesundheit im Reichsinnenministerium – waren der Gesundheitsschutz der Jugend und die Bevölkerungspolitik ebenfalls eng mit der Wehrhaftigkeit verknüpft. Ihre Hauptquellen seien „das kriegerische und soldatische Erbgut eines Volkes, seine rassenmäßige Kraft, sein Geburtenüberschuß, gesunde Lebensbedingungen, körperliche Tüchtigkeit der Jugend usw." Ein Staat müsse all sein Streben diesen Zielen unterordnen. Es sei nicht zu verstehen, „wenn ein Staat für seine Wehrmacht Milliarden aufwendet und für seine Bevölkerungspolitik kein Geld übrig zu haben glaubt". Der Sportarzt und Sozialhygieniker Hans Hoske betonte, die Zahl und Güte der Bevölkerung bedinge die Möglichkeiten eines Staats zur Sicherung seiner Existenz. Eine günstige Entwicklung der Wehrfähigkeit des deutschen Volks könne allerdings nur erwartet werden,
„wenn das Augenmerk wesentlich auf die Punkte gerichtet wird, welche die Ursache für die ungenügende Leistungsentwicklung der Jugend sind. Die Untersuchung dieser Ursachen zeigt, daß die sozialpolitische Gesetzgebung aus der Vergangenheit zahlreiche Mängel und Lücken aufweist, die unbedingt beseitigt werden müssen. Nur so ist es jedenfalls zu erreichen, daß die Zahl der nicht voll Leistungsfähigen verringert wird. Denn gerade der Gruppe der Ausgemusterten muß besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, weil sie es sind, die im Ernstfalle nicht nur durch ihre körperliche Leistungsunfähigkeit hindern, sondern auch durch ihre geistige Einstellung aus ihrer Minderleistung heraus das Ganze schädigen, wie es die Vergangenheit gelehrt hat."
Hoskes Ausführungen zeigen dabei, wie eng im nationalsozialistischen Deutschland Sozial-, Rassen- und Bevölkerungspolitik miteinander verflochten waren und letztlich nur dem einen Ziel dienten: Die deutsche Bevölkerung sowohl physisch als auch psychisch auf den kommenden Krieg um „Lebensraum" vorzubereiten und fit zu machen.
In den folgenden Monaten warb beinahe jede Ausgabe der Zeitschrift Das junge Deutschland aus militärischen Gründen für einen besseren Arbeitsschutz für Jugendliche. Besonders tat sich dabei der Referent im Sozialen Amt der Reichsjugendführung und Hauptschriftleiter der HJ-Zeitung Albert Müller hervor. Er forderte nicht weniger als das Ende der „herkömmlichen" und die vollständige Durchsetzung einer „politischen Sozialpolitik", die er als staatsnotwendig postulierte. Der Staat müsse
„aus Gründen seiner eigenen Existenz und Aufgabe die Arbeit der Jugend, schützend und aufbauend, bis in den letzten Betrieb hinein als seinen Hoheitsbereich betrachten und gestalten. Auf der Ebene der Wiedereinführung der Wehrpflicht hat die körperliche und berufliche Mobilmachung jener Jugend zu erfolgen, die in der Zeit entscheidender Entwicklung durch ihre tägliche Betriebsarbeit innerlich und äußerlich geformt wird."
Es sei von besonderem öffentlichen Interesse, die Gesundheit der Jugend zu erhalten, da diese nicht nur „Mitschöpfer und Träger, sondern auch Garant des nationalsozialistischen Staates" sei. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, verwies Müller auf den Landwehrgeschäftsbericht des Generals von Horn. Die Sorge Friedrich Wilhelms III. um die Gesundheit der preußischen Rekruten sei ein Musterbeispiel jener politischen Sozialpolitik, „die, fern von Interessenausgleich, Wirtschaftsstatistik oder Wohltätigkeit, allein Staatszwecke verwirklicht".
Mit Bedacht griff Müller auch in weiteren Artikeln auf den Horn-Bericht zurück und ließ dabei das nationalsozialistische Verständnis von Sozialpolitik erkennen. Von Beginn an habe die preußisch-deutsche Sozialpolitik dem Zweck der „allgemeinen Wehrhaftmachung" gedient. Vielfach werde ihr daher der Vorwurf gemacht, dass „nicht die Grundsätze der Humanität oder des allgemeinen Wohlwollens ihr Wesen bestimmte, sondern allein die kühle Zweckmäßigkeit der Staatsräson". Dieser Vorwurf war für Müller aber ein Zeichen höchster Anerkennung. Schließlich sei jede sozialpolitische Besserung nicht als ein Geschenk an den Einzelnen aufzufassen, sondern als „Voraussetzung zu weiterem Einsatz, Grundlage noch höherer Leistung der Gesamtheit". Sozialpolitik für das Volk als Ganzes, militärisch, volkswirtschaftlich und rassenpolitisch motiviert, das war der Grundgedanke des NS-Wohlfahrtsstaats.
Angesichts der vielstimmigen Forderungen nach einem besseren Jugendarbeitsschutz – im Rahmen der „Tagung für soziale Jugendarbeit" Anfang Dezember 1935 hatten Reichsjugendführung und DAF erneut Reformen verlangt – ergriff das Reichsarbeitsministerium mit Franz Seldte an der Spitze die Initiative und arbeitete gemeinsam mit dem Reichswirtschaftsministerium einen ersten Entwurf eines Jugendschutzgesetzes aus. Bis dahin hatte sich das RAM in den Diskussionen auffällig zurückgehalten, obwohl es neben der Arbeitsmarktpolitik auch für die Sozialgesetzgebung zuständig war und darüber hinaus bereits auf einen Gesetzentwurf aus dem Jahr 1928 zurückgreifen konnte, der damals im Reichstag gescheitert war. Das Arbeitsministerium setzte allerdings andere Prioritäten wie die Sanierung der Sozialversicherung. Ungeachtet der späteren Kompetenzkonflikte mit der DAF, die das polykratische Chaos des NS-Staats illustrieren, zogen RAM, Reichsjugendführung und DAF mit Blick auf ein neues Jugendschutzgesetz weitgehend an einem Strang.
Im Dezember 1935 waren die Arbeiten abgeschlossen: Das Schutzalter sollte auf 18 Jahre heraufgesetzt, die Berufsschulzeit in die Arbeitszeit miteingerechnet werden. Außerdem sah der Entwurf einen zweiwöchigen Jahresurlaub für Jugendliche vor. Militärische Argumente enthielten Entwurf und Begründung nicht, der Schwerpunkt lag vielmehr auf bevölkerungspolitischen und ökonomischen Gesichtspunkten der Leistungssteigerung durch Verminderung des Kräfteverschleißes. Diesen Gesetzesvorschlag leiteten die Ministerien über die Reichswirtschaftskammer an die Wirtschaftsgruppen weiter und forderten sie zu Stellungnahmen auf. Noch ehe sich diese dazu äußerten, reichten die Ministerien den Entwurf im März 1936 auch an den Jugendrechtsausschuss weiter. Mit der Ausarbeitung des Gesetzes hatte dieser demnach nichts zu tun, obwohl er ursprünglich genau für jene Aufgabe ins Leben gerufen worden war. Damit war die Reichsjugendführung auch der Möglichkeit beraubt, mithilfe des Ausschusses unmittelbaren Einfluss auf die gesetzgeberischen Prozesse zu nehmen.
Auf den nächsten Sitzungen des Jugendrechtsausschusses am 4. und 28. Mai 1936 wurde der Entwurf der Ministerien ausgiebig besprochen. Obwohl die Wehrpflicht mittlerweile seit mehr als einem Jahr wieder in Kraft war, spielten militärische Argumente in den Diskussionen keine Rolle. Der Jurist Edmund Keßler forderte die Ausdehnung der Bestimmungen auf die Landwirtschaft, begründete seinen Vorstoß jedoch in erster Linie politisch: Als Garant der nationalsozialistischen Weltanschauung benötige die Jugend auch genügend Freizeit, um sich politisch zu betätigen. Diese Forderung war nicht gänzlich neu: Axmann hatte bereits wiederholt betont, der Jugend müsse mehr Urlaub zugestanden werden, damit sie an den Zeltlagern der HJ teilnehmen könne. Ein weiteres Motiv für ein neues Jugendschutzgesetz trat damit ganz offen zutage: Gesetzlich geregelter Urlaubsanspruch sollte dafür sorgen, dass die HJ mehr Gelegenheiten bekam, die Jugendlichen ideologisch nach Wunsch der NS-Führung zu formen. Der einflussreiche Rechtswissenschaftler Wolfgang Siebert, der dem Ausschuss ab 1942 vorstehen sollte, berichtete hingegen im Anschluss über die Beratungen, ein neues Jugendschutzgesetz solle dazu dienen, eine Voraussetzung für ein nationalsozialistisches Erziehungs- und Ausbildungsrecht zu schaffen. Siebert verwies dabei auf Punkt 21 des Parteiprogramms der NSDAP und nannte die Jugend das Kapital des gesamten Volks.
Alle Diskussionen im Jugendrechtsausschuss blieben zunächst fruchtlos, denn die deutsche Industrie lehnte Anfang Mai 1936 den ersten Gesetzesentwurf des RAM ab. Vor allem die Anhebung des Schutzalters auf 18 Jahre und die Anrechnung der Berufsschulstunden auf die Arbeitszeit stießen auf heftigen Widerstand. Das RAM, durch die Agitation der HJ und ihrer Presseorgane zum Handeln genötigt, legte bereits Ende 1936 einen zweiten Gesetzesentwurf vor, in dessen Vorspruch es hieß: „Die Reichsregierung will die erwerbstätigen Jugendlichen zu seelisch und körperlich gesunden und leistungsfähigen Volksgenossen heranziehen." Begründet wurde die Notwendigkeit neuer gesetzlicher Regelungen vor allem historisch. Die bisherigen Bestimmungen seien zu unübersichtlich. Außerdem habe der Staat die Pflicht, „allen berufstätigen Jugendlichen einen Arbeitsschutz zuteil werden zu lassen, der ihrer organischen Entwicklung gerecht wird und den Jugendlichen die Möglichkeit gewährt, sich zu körperlich gesunden sowie beruflich und staatspolitisch zur höchsten Leistung befähigten Volksgenossen auszubilden". Von militärischen Argumenten, wie sie in den HJ-Publikationen mittlerweile weitverbreitet waren, fehlt im Entwurf des Ministeriums indes jede Spur. Noch einmal forderte das RAM die Industrie zu einer Stellungnahme auf, doch fiel diese im Januar 1937 erneut ablehnend aus. Man erkenne keine Änderungen im Vergleich zum ersten Entwurf, ließ die Reichsgruppe Industrie verlauten. Dem RAM blieb nichts anderes übrig, als weitere Korrekturen an seinem Entwurf vorzunehmen.
Mittlerweile hatte sich die wirtschaftliche Lage des Deutschen Reichs bedeutend verändert. Hitler hatte bereits am 18. Oktober 1936 eine „Verordnung zur Durchführung des Vierjahresplans" unterschrieben, die eine massive Aufrüstung einleitete und die deutsche Wirtschaft auf einen Krieg vorbereiten sollte. Auch war die 1933 noch außerordentlich hohe Arbeitslosigkeit rapide zurückgegangen. Um das Jugendschutzgesetz gegen die Interessen der Industrie durchsetzen zu können, griff die Reichsjugendführung nun erneut auf militärische Begründungen zurück. So hoffte man, das Argument der Industrie zu konterkarieren, sie könne jugendliche Arbeiter für die Aufrüstung nicht entbehren. Schließlich sollte das Jugendschutzgesetz nicht nur die Wehrkraft der Jugendlichen erhalten, sondern durch eine Beschränkung der Arbeitszeiten und durch Gewährung von Urlaub auch ihre wirtschaftliche Leistungskraft. „Mehr Leistung durch weniger Arbeit" lautete die Begründung des RAM. Jugendschutz als ökonomische Kriegsvorbereitung konnte daher ebenfalls als Rechtfertigung angeführt werden. Mit der Verabschiedung eines neuen Jugendschutzgesetzes sei „einer gesteigerten Wehrfähigkeit des Nachwuchses gedient und der beruflichen Leistungssteigerung, als einer Zielsetzung des Vierjahresplanes, eine Grundlage gegeben", betonte die Nationalsozialistische Parteikorrespondenz.
Wie bereits 1936 schwang sich Albert Müller zum Vorkämpfer für den Jugendschutz auf. Sozialpolitik, so der Schriftleiter von Das junge Deutschland, müsse weg vom „christlichen Nächstendienst" oder vom „rein menschlichen Helfenwollen". Vielmehr müsse sie „die Rettung, Pflege und Förderung von Leistungswerten" zum Ziel haben. Bereits zu Beginn seiner Ausführungen machte Müller daher deutlich, welches Motiv seiner Ansicht nach oberste Priorität bei der Durchsetzung weiterer sozialpolitischer Maßnahmen haben müsse. Nachdrücklicher konnte man das Ziel der NS-Sozialpolitik kaum formulieren:
„Die preußische Sozialpolitik entstand aus dem Willen zur Erhaltung und Steigerung der Wehrkraft des Volkes. [...] Aus keinem anderen Grund haben sich damals die ersten Etappen des Jugendschutzes durchgesetzt. Nach der inneren Entwicklung der letzten Jahre dürften wir für Gedankengänge dieser Art aufgeschlossen sein und vor allem Verständnis dafür haben, daß nicht zuletzt die deutsche Wehrmacht, im besonderen also das Reichskriegsministerium, größten Wert legen muß auf eine planmäßige sozialpolitische Förderung der in das Wehrpflichtigenalter hineinwachsenden Jugend. Sozialpolitik aus Gesichtspunkten der Wehrkraft des Volkes, mir scheint, damit ist der Zukunftsweg aller sozialpolitischen Bestrebungen klar hervorgehoben."
Bereits im Frühjahr 1937 war ein weiterer Entwurf des RAM fertiggestellt, der nun mit der letztlich verabschiedeten Fassung bis auf wenige Einzelheiten übereinstimmte. Der Jugendrechtsausschuss befasste sich am 4. März noch einmal gründlich mit der Materie, wobei Axmann als Vorsitzender die Beweggründe für ein neues Gesetz rekapitulierte. Dem Gesetzesvorspruch habe man „die Idee der Leistungssteigerung der deutschen Jugend zu Grunde gelegt. Jugendschutz ist Volksschutz. Die Leistungssteigerung der deutschen Jugend kann nur dann vollzogen werden, wenn die Jugend im Arbeitsleben geschützt wird. [...] Ausserdem ist es notwendig, dass sie für die Ertüchtigung die notwendige Freizeit erhält und dass insbesondere der Urlaub und seine sinnvolle Ausnutzung sichergestellt wird." Darunter verstand Axmann die Partizipation an HJ-Zeltlagern, und wenn der Jugendliche mindestens zehn Tage an einer solchen HJ-Veranstaltung teilgenommen hatte, verlängerte sich der Urlaub von 15 (für Jugendliche unter 15 Jahren) beziehungsweise 12 (für Jugendliche älter als 16 Jahre) auf 18 Tage. Hier kam es Axmann in erster Linie darauf an, die Jugendlichen politisch zu schulen und ideologisch nach Wunsch der NS-Führung zu formen. Demnach besaß das Jugendschutzgesetz nicht nur eine ökonomische und militärische, sondern auch eine ausgesprochen politische Komponente. Der Hitlerjugend wurden auf diese Weise noch mehr Möglichkeiten eingeräumt, auf die deutschen Jugendlichen einzuwirken.
Andere Ausschussmitglieder betonten erneut das klassische wehrpolitische respektive wehrwirtschaftliche Argument, dass an der Gesundheit von Jugendlichen und Frauen kein Raubbau betrieben werden dürfe. Schließlich hänge auch die Erfüllung des Vierjahresplans von einem sorgsamen Umgang mit den Kräften der Minderjährigen ab. Würden diese übermäßig beansprucht, hätten die Jugendlichen eventuell ihr ganzes Leben unter den Folgen zu leiden und würden „vielleicht sogar in ihrer Wehrfähigkeit beeinträchtigt", führte Willi Rühmann, der Abgesandte des DAF-Jugendamts, aus. Ähnlich wie das RAM griff die DAF abseits des Jugendrechtsausschusses aber auch das wirtschaftliche Argument der Leistungssteigerung auf. Vorbeugen sei besser als Heilen, lautete die Devise. Nur durch Schonung der jugendlichen Kräfte sei eine Leistungssteigerung auf Dauer zu erreichen.
Waren sich im Anschluss an diese Diskussionen die beteiligten Ressorts und auch die deutsche Industrie endlich über den Gesetzesentwurf einig, legte nun Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß sein Veto dagegen ein. Obwohl sich dieser Widerstand nicht gegen den Entwurf als Ganzes, sondern lediglich gegen einige Details richtete, verzögerte der Einspruch die Verabschiedung des Gesetzes bis 1938. Im Januar nahm auch die Reichskanzlei zu dem Entwurf Stellung und stimmte zu. Ein dort angefertigter Aktenvermerk ermöglicht noch einmal Rückschlüsse auf die Motive der Jugendschutzgesetzgebung. Zur Genese des Entwurfs vermerkte die Reichskanzlei: „Die unterschiedliche Behandlung eigener und fremder Kinder hat das Gesetz fallen lassen unter dem Gesichtspunkt, daß im Interesse der Volksgesundheit und der Wehrhaftmachung des deutschen Volkes die eigenen Kinder desselben Schutzes bedürfen wie die fremden."
Am 30. April 1938 wurde das Jugendschutzgesetz im Reichsgesetzblatt veröffentlicht; am 1. Januar 1939 trat es in Kraft. Im Reichsarbeitsblatt, dem offiziellen Amtsblatt des RAM, wurde betont, die Veröffentlichung des Gesetzes erfolge „im Interesse der Volksgesundheit und der Wehrhaftmachung des deutschen Volkes". Ähnlich äußerte sich das Arbeitswissenschaftliche Institut der DAF, das gewissermaßen als intellektuelle Denkfabrik im Bereich der NS-Sozial- und Arbeitspolitik fungierte, über die Motive der Jugendschutzgesetzgebung. Befürchtungen, die neuen Bestimmungen könnten die Wirtschaft hemmen, trat das Institut machtvoll entgegen. Schließlich werde die Kraft einer Armee „nicht nur durch die Waffen, sondern auch und vor allem durch die Waffenträger repräsentiert. Die Erhaltung der Volkskraft für den Kriegsfall erfordert die Erhaltung des Arbeitsvermögens; denn dieses ist wehrpolitisch identisch mit der Wehrkraft des Volkes." Folglich habe es „keinen Zweck, Waffen zu schmieden, wenn die Wehrfähigen nicht zahlreich oder physisch und psychisch nicht stark genug sind, um diese Waffen erfolgreich zu führen".
Ein Vergleich zwischen dem deutschen Jugendschutzgesetz und einschlägigen ausländischen Gesetzen steht bislang aus. Zwar erließen die meisten europäischen Industrieländer in den 1930er Jahren neue Schutzbestimmungen für die jugendliche Arbeiterschaft, doch reichten die Regelungen nur selten an die auf dem Papier recht weitgehenden Bestimmungen des NS-Gesetzes heran. Die Frage, ob die militärische Motivation für besseren Jugendschutz ein deutsches Phänomen war und ob das Gesetz gar als Vorbild für ausländische Initiativen diente, lässt sich angesichts des Forschungsstands nur unzureichend beantworten. Ein kurzer Blick über die Grenzen zeigt jedoch, dass vor allem Großbritannien darum bemüht war, sich von der Jugendschutzgesetzgebung des Dritten Reichs abzugrenzen. Zwar nahm die britische Regierung die deutschen Bestrebungen durchaus zur Kenntnis, die Jugendlichen physisch zu ertüchtigen, und ließ sich auch davon beeinflussen. Doch achtete sie penibel darauf, moralisch-ethische und wirtschaftliche Argumente in den Vordergrund zu stellen, um so die Überlegenheit der Demokratie zu beweisen.
Das Jugendschutzgesetz wurde in der NS-Presse und in der Fachwissenschaft überwiegend positiv aufgenommen. Auf einer Festsitzung des Jugendrechtsausschusses am 15. Juni 1938 bezeichnete Hans Frank das neue Gesetz „als einen der markanten Bausteine in der Geschichte der Sozialpolitik", das „kein Endpunkt, sondern der Anfang auf dem Weg zu einem einheitlichen deutschen Jugendrecht sei". Seldte bedankte sich beim Jugendrechtsausschuss für die geleistete Arbeit. Wenn das RAM nicht alle Forderungen übernommen habe, sei dies darin begründet, dass man die Interessen von Wirtschaft und Jugend auf einen Nenner habe bringen müssen. Die DAF betonte, erst die Vorarbeiten der Gaujugendwalter in den einzelnen Betrieben hätten das Jugendschutzgesetz Wirklichkeit werden lassen. Dieses sei nicht erlassen worden,
„wie man hier und da hört, um den Forderungen der Jugend gerecht zu werden; es stellt auch keine Gnade oder Fürsorge für die Jugend dar, sondern es ist ein Schutzgesetz, das die nationalsozialistische Regierung aus hohen staats- und volkspolitischen Gesichtspunkten heraus zur Verkündung gebracht hat. Das Jugendschutzgesetz dient der Sicherung der Gesunderhaltung und damit der Sicherung der Leistungsfähigkeit unseres Volkes auf allen Gebieten des völkischen Lebens für die Zukunft."
Deutlich wurde in den zahlreichen Kommentaren, dass auch das Dritte Reich ein Gesetz nicht allein unter dem Postulat der Erhaltung und Förderung der Wehrkraft vermarkten konnte. Dies hätte nicht nur im Ausland weiteres Misstrauen ob des deutschen Kurses erregt, sondern wäre auch bei einer in weiten Teilen kriegsmüden deutschen Bevölkerung nicht zielführend gewesen. Reichsarbeitsminister Seldte, der Arbeitsrechtler Friedrich Sitzler und der Jurist Wolfgang Siebert hoben vor allem wirtschaftliche Argumente wie Leistungssteigerung durch Schonung der jugendlichen Kräfte hervor; auch Axmann selbst nannte im Völkischen Beobachter keine militärischen Motive. Albert Müller dagegen betonte ein weiteres Mal die Erhaltung und Steigerung der Wehrkraft als Handlungsmaxime des Jugendschutzgesetzes. Dabei verwies er abermals auf den Horn-Bericht und auf die enge Verknüpfung von Wehrdienst und Jugendschutz.
Dass militärische Motive für die Verabschiedung des Jugendschutzgesetzes recht schwer wogen, verdeutlichen auch die Ausführungen von Dionys Kremer, der für das RAM 1938 eine kommentierte Ausgabe des Gesetzes herausgab. In fast wörtlicher Übereinstimmung mit der Aktennotiz aus der Reichskanzlei betonte der Ministerialrat, das Gesetz habe die unterschiedliche Behandlung eigener und fremder Kinder fallengelassen, da „im Interesse der Volksgesundheit und der Wehrhaftmachung des deutschen Volkes die eigenen Kinder desselben Schutzes wie die fremden bedürfen". Noch deutlicher wurde Kremer im HJ-Sprachrohr Das junge Deutschland. Demnach habe die Reichsregierung
„den Jugendschutz so gestaltet, daß die Jugendlichen durch Sicherstellung ihrer Gesundheit, ihrer praktischen und theoretischen Fortbildung im Beruf und nicht zuletzt ihrer politischen Erziehung zu den leistungsfähigen Menschen herangebildet werden, deren der wirtschaftliche Aufbau, die Wehrhaftmachung und die Erhaltung der Volkskraft dringend bedürfen".
Unter der Überschrift „Jugendschutz und Wehrpolitik" brachte die Nationalsozialistische Parteikorrespondenz Ende Dezember 1938 einen Artikel, in dem es hieß: „Keine Arbeitskraft darf verlorengehen, kein Jugendlicher wehruntüchtig werden". Ein hundertjähriger Kampf sei mit dem Jugendschutzgesetz endlich gewonnen worden. Nutznießer dieses Siegs sei „die Wehrmacht als Garantin des Friedens und der Freiheit, wenn die jungen Soldaten gesund und unbelastet ihren Dienst versehen können".
Konnten diese Einschätzungen noch als Propaganda der Reichsjugendführung abgetan werden, so erfuhr die Annahme, militärische Motive hätten die Verabschiedung des Jugendschutzgesetzes massiv begünstigt, durch den Reichsarbeitsminister eine offizielle Bestätigung. Hatten Seldte und seine Dienststelle bislang fast ausschließlich wirtschaftliche Argumente für das neue Gesetz angeführt, betonte der Minister nun erstmals auch dessen wehrpolitische Bedeutung. Nach dem unvermeidlichen Verweis auf den Horn-Bericht widersprach Seldte der Annahme, das neue Gesetz behindere die Zielsetzungen des Vierjahresplans, der „die äußerste Anspannung aller Arbeitskräfte" verlange.
„Erst die durch das Jugendschutzgesetz eingeleitete planvolle Lenkung der Arbeits- und Freizeitgestaltung ermöglicht die volle Entfaltung der körperlichen und geistigen Kräfte der Jugend, verbürgt die Erhaltung und Mehrung der gesunden Arbeitskräfte und verhindert, daß die deutsche Jugend frühzeitig arbeitsunfähig und damit auch wehrunfähig wird."
Bereits am ersten Kriegstag erließ die Reichsregierung die „Verordnung zur Abänderung und Ergänzung von Vorschriften auf dem Gebiete des Arbeitsrechts", die es unter anderem ermöglichte, Vorschriften des Jugendschutzgesetzes für bestimmte Regionen oder Betriebe außer Kraft zu setzen. Zehn Tage später folgte die „Anordnung des Reichsarbeitsministers betr. Ausnahmen vom Arbeitsschutz", die eine erheblich längere Arbeitszeit, eine Verkürzung der Nachtruhe und eine Einschränkung der Pausen auch für die jugendliche Arbeiterschaft gestattete. Schließlich könne man auch von den Jugendlichen verlangen, dass sie in Kriegszeiten schwerere Lasten trügen, lautete der offizielle Tenor. Das Arbeitswissenschaftliche Institut der DAF hatte bereits Anfang 1939 in seiner Begründung des Jugendschutzgesetzes betont, der Staat könne in eine Lage geraten, die „den sofortigen Einsatz aller Kräfte des Volkes für eine einmalige Aufgabe erfordern" würde. Wenn die Existenz des Staats auf dem Spiel stehe, müsse das Volk „Teile seines Vermögens – auch seines Arbeitsvermögens – opfern". Andere Publikationen stimmten diesen Ausführungen zu. Jeder müsse nun vollen Einsatz bringen. Das gelte „in vollem Umfange auch für die schaffende Jugend. Damit ist bereits klargestellt, daß der soziale Schutz, wie er in erster Linie im Jugendschutzgesetz seinen Ausdruck findet, in dem Ausmaß den gegebenen Verhältnissen und Notwendigkeiten angepaßt werden muß, wie es im Interesse der Kriegswirtschaft erforderlich ist." Allerdings sei eine Lockerung des Schutzes nur dort ratsam, wo sie zwingend erforderlich sei. Schließlich habe die Reichsregierung ein großes Interesse an „der Sicherung eines gesunden, leistungsfähigen und wehrtauglichen Nachwuchses". Der Einsatz der Jugendlichen avancierte besonders in der Industrie zu einem bedeutenden Faktor der Kriegswirtschaft. In der Folgezeit stiegen die Arbeitszeiten auf bis zu 48 beziehungsweise 56 Stunden, je nachdem, ob die Jugendlichen jünger oder älter waren als 16 Jahre.
Da man seine wesentlichen Bestimmungen außer Kraft gesetzt hatte, wurde das Jugendschutzgesetz während des Kriegs gewissermaßen zu einem Wehrgesetz der Vorkriegszeit stilisiert, das die Reichsregierung in weiser Voraussicht der „gegnerischen Aggressionen" bereits vor dem Konflikt erlassen habe, um die Jugend kriegsbereit zu machen. So hieß es in einem anonymen Aufsatz in Das junge Deutschland, man habe aus den Fehlern des Ersten Weltkriegs die richtigen Lehren gezogen, indem man auch in den Betrieben eine „wehrhafte Jugend" erziehe: „Durch Jahre hindurch ist die Jugend planmäßig angehalten worden, sich beruflich zu ertüchtigen. Die gesamte Sozialarbeit, angefangen bei der Erholungspflege bis hin zum Reichsberufswettkampf, wurde als Teil der Wehrhaftmachung des jungen Volkes betrieben." Sozialpolitik diente damit einmal mehr dazu, die Loyalität der deutschen Bevölkerung auch unter Kriegsbedingungen zu sichern und einen zweiten November 1918 zu verhindern.
Nach Protesten der DAF und Unmutsbekundungen in der Arbeiterschaft wurden jene Bestimmungen des ministeriellen Erlasses vom 11. September und der Kriegswirtschaftsverordnung vom 4. September, die Einschränkungen des Arbeitsschutzes vorsahen, am 12. Dezember 1939 in Teilen wieder zurückgenommen. Die Wehrmacht hatte einen raschen Sieg über Polen errungen, und die Westmächte hielten sich nach wie vor mit militärischen Maßnahmen zurück. Folglich war ein gewisser Spielraum für ein sozialpolitisches Entgegenkommen vorhanden, von dem nun auch die Jugendlichen profitierten. Die nationalsozialistische Fachpresse feierte den neuen Erlass des RAM als Beweis der Weitsicht des Regimes, das aus der Vergangenheit gelernt habe.
Die Beschränkung der Arbeitszeit von Jugendlichen blieb bis Kriegsende ein Reizthema, das diskursiven Konjunkturen unterworfen war. Wiederholten Forderungen der Industrie, die Nachtarbeit für Jugendliche zu erlauben, begegnete das RAM in der Regel mit Absagen. Der Jugendschutz müsse auch in Kriegszeiten grundsätzlich aufrechterhalten werden. Das Argument des Erhalts der Wehrfähigkeit war dabei das wirkungsvollste Mittel, um Vorstöße aus der Industrie abzuwehren. Schließlich sei es neben der Erfüllung der rüstungspolitischen Ziele „ebenfalls ein wehrwirtschaftliches Erfordernis, daß die Jugendlichen bei der Einziehung zum Wehrdienst nicht körperlich geschwächt seien". Damit war klar, dass es dem NS-Regime nicht um den Schutz der Jugendlichen aus sozialen und fürsorgespezifischen, sondern aus militärischen Gründen ging. Wiederholt hatte sich gerade die deutsche Militärführung für einen verstärkten Arbeitseinsatz der Jugendlichen stark gemacht, damit die Industrie die Rüstungswünsche der Wehrmacht erfüllen könne. Das Arbeitsministerium warb dagegen mit der Aussicht auf zahlreiche gesunde Rekruten, deren Kräfte sich nicht vorzeitig verbraucht hatten.
Auch in den späteren Kriegsjahren verloren die Argumente, die Jugendschutz und Wehrfähigkeit als zwei Seiten derselben Medaille sahen, nichts an ihrer Wirkmacht, auch wenn sie der wirtschaftlichen Mobilmachung sozialpolitische Grenzen setzten. „Jugendertüchtigung und Jugendschutz tragen jetzt im Kriege reiche Früchte", betonte der Wirtschaftspolitische Dienst im April 1943. „Die Leistung, die heute der Lehrling und Jungarbeiter im Betrieb vollbringt, wird ihm ermöglicht, weil seine Gesundheit und Leistungsfähigkeit auch unter den Umständen des Krieges intakt geblieben ist." Von einer körperlich und geistig ausgebeuteten Jugend sei dies nicht zu erwarten. Diese Einschätzung bekräftigte Fritz Sauckel durch ein Schreiben an das Oberkommando der Marine. Der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz lehnte eine „weitere Lockerung der Schutzvorschriften für Jugendliche und eine Heranziehung zu Mehrarbeit und Nachtarbeit" kategorisch ab. Gerade „mit Rücksicht auf die Wehrertüchtigung und den frühen militärischen Einsatz der Jugendlichen während des Krieges" sei diese „nicht tragbar". Sauckel setzte stattdessen auf die Ausbeutung der sogenannten Ostarbeiter und Kriegsgefangenen. Noch dreieinhalb Monate vor der Kapitulation der deutschen Streitkräfte behauptete die NS-Presse, vor allem der „konsequenten Aufrechterhaltung des Jugendschutzes" seien „Wehrtüchtigkeit und Berufsausbildung unserer Jugend" zu verdanken.
Letztlich brachte das Jugendschutzgesetz von 1938 für Kinder und Jugendliche damit zwar gewisse weitergehende Arbeitsschutzbestimmungen mit sich, doch waren diese nicht um ihrer selbst willen in Kraft gesetzt worden, sondern um die wertvolle – nichtjüdische – deutsche Jugend für die „Aufgaben des Staates" zu schonen. Hermann Lauterbacher, der Stellvertreter Baldur von Schirachs, brachte diese Motive auf einen Punkt: „Es dürfe im deutschen Volk keinen Jungen und kein Mädel geben, die des Glaubens seien, sie gehörten sich allein. – Ihre Gesundheit, ihr Können seien vielmehr Eigentum der gesamten Nation." Raubbau betrieb die NS-Kriegswirtschaftsführung daher lieber an den zahllosen Zwangsarbeitern.
Wie die Genese des Jugendschutzgesetzes zeigt, spielten militärische Argumente zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft keine Rolle. Das Motiv, die unübersichtliche und sich zum Teil widersprechende Gesetzeslage zu vereinfachen, sowie in erster Linie wirtschaftliche Beweggründe gaben zunächst den Ton an, obwohl es natürlich auch hier um den sozialdarwinistischen (zivilen) Wettbewerb von Staaten ging. Die militärische Legitimation für ein Jugendschutzgesetz gewann erst massiv an Bedeutung, nachdem das Deutsche Reich 1935 die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt hatte. Jetzt wandelte sich der Diskurs: Sprachen anfangs noch rein ökonomische Beweggründe für einen besseren Arbeitsschutz für Jugendliche (Leistungssteigerung durch Schonung der jugendlichen Kräfte), wurden nun vermehrt wehrwirtschaftliche Argumente ins Feld geführt. Als Bestandteil der ökonomischen Kriegsvorbereitung und der „sozialen Kriegsrüstung" war das Deutsche Reich auf eine gesunde und kräftige Jugend angewiesen, zumal der Vierjahresplan 1936 die Weichen für eine massive Aufrüstung stellte. Außerdem war eine Wehrpflichtarmee weit stärker auf eine gesunde Gesamtbevölkerung angewiesen als eine nur 100.000 Soldaten umfassende Berufsarmee, die sich aus den zahlreichen Bewerbern die Besten aussuchen konnte.
Der Landwehrgeschäftsbericht von Heinrich Wilhelm von Horn aus dem Jahr 1828 bildete gewissermaßen den Startpunkt für die preußisch-deutsche Jugendschutzgesetzgebung. Wann immer in der Folgezeit neue Bestimmungen zum Arbeitsschutz für Jugendliche auf den Weg gebracht wurden, diente der Bericht als vielzitiertes Beispiel einer Sozialpolitik, die eben auch militärisch motiviert war. Obwohl die Rolle des Militärs und die militärisch-zivilen Beziehungen zwischen 1828 und 1938 einen großen Bedeutungswandel erfuhren, blieb das militärische Argument im Bereich der Jugendschutzgesetzgebung stets präsent. Die NS-Führung musste solche Muster demnach nicht neu erfinden, sondern konnte sie aufgreifen. Festzuhalten bleibt jedoch, dass sich die bewaffnete Macht selbst bis 1933 kaum in Jugendschutzdebatten zu Wort gemeldet hatte. Dass der „Ruf der Wehrmacht nach einer gesunden und damit wehrtauglichen Jugend zum Agens des Jugendrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht wurde", lässt sich auch für das Jugendschutzgesetz von 1938 nicht belegen. Vereinzelte Stimmen aus dem Militärsanitätswesen bilden hier eher die Ausnahme.
Schrittmacher im Bemühen um einen besseren Jugendschutz waren demnach nicht die Streitkräfte, sondern vielmehr die Reichsjugendführung und die DAF. Schließlich räumte die NS-Propaganda der Jugend einen besonders hohen Stellenwert ein. Hitler selbst bezeichnete sie wiederholt als Zukunft der „Bewegung" und des Reichs. Zudem boten die bislang unzureichenden Jugendschutzbestimmungen der Reichsjugendführung eine hervorragende Möglichkeit, sich als Vorkämpfer für sozialpolitischen Fortschritt zu stilisieren und damit zugleich das politische System der Weimarer Republik zu diskreditieren. Artur Axmann, als Leiter des Sozialen Amts der Reichsjugendführung selbst an der Genese des Jugendschutzgesetzes beteiligt, behauptete noch in seinen 1995 erschienenen Memoiren, die hier festgeschriebenen Bestimmungen hätten „den besten und fortschrittlichsten Arbeitsschutz der Welt" konstituiert. Diese Aussage hatte sicher einen wahren Kern, wie der oberflächliche Vergleich mit den Jugendschutzbestimmungen anderer Länder zeigt. Dass das Jugendschutzgesetz aber nicht für alle deutschen Jugendlichen galt und beispielsweise Juden sowie Sinti und Roma ausschloss, ließ Axmann dabei ebenso unerwähnt wie dessen vorwiegend militärische und wirtschaftliche Motivation.
Die propagandistische Komponente des Jugendschutzgesetzes reichte jedoch über diese Punkte hinaus. Das NS-Regime nutzte sozialpolitische Maßnahmen von Beginn an auch als Mittel, um sich die Loyalität der Bevölkerung zu sichern. Diese Entwicklung verstärkte sich während des Zweiten Weltkriegs noch, indem wohlfahrtsstaatliche Programme und weitreichende Zukunftsversprechen von den Entbehrungen und Leiden des Konflikts ablenken und gar als positives Kriegsziel verstanden werden sollten. Auch das Jugendschutzgesetz fügte sich in solche Bestrebungen ein. Zudem sollte sozialpolitisches Entgegenkommen verschleiern, dass die NS-Regierung zahlreiche Errungenschaften des Weimarer Wohlfahrtsstaats rückgängig gemacht und tief in bislang bestehendes Arbeitsrecht eingegriffen hatte.
Mithilfe ihres Sprachrohrs, der Zeitschrift Das junge Deutschland, mobilisierte die Reichsjugendführung Unterstützung für weiterreichende Arbeitsschutzbestimmungen für Jugendliche und ein Verbot der Kinderarbeit. Ab 1935 durchzog dabei das militärische Argument wie ein roter Faden alle Ausgaben der Zeitschrift. Hier wurden fortan alle Facetten thematisiert: Das Spektrum reichte dabei von wehrwirtschaftlichen und bevölkerungspolitischen Motiven hin zu gesundheitlichen Beweggründen. Die Wehrmacht sei auf zahlreiche gesunde Rekruten angewiesen, um das Recht Deutschlands in der Welt durchsetzen zu können. Daher sei ein besserer Jugendschutz dringend notwendig. Albert Müller, als Referent im Sozialen Amt der Reichsjugendführung und Hauptschriftleiter der HJ-Zeitung einer der exponiertesten Trommler für ein neues Jugendschutzgesetz, bezeichnete militärisch bedingte Sozialpolitik sogar wiederholt als Staatsnotwendigkeit. Häufig wurden dabei angebliche Parallelen zum Horn-Bericht von 1828 bemüht. Die Reichsjugendführung konnte sich demnach auf eine vermeintlich ungebrochene militärische Tradition der Jugendschutzgesetzgebung berufen.
Bei der Durchsetzung des neuen Jugendschutzgesetzes spielte neben wehr- und bevölkerungspolitischen Überlegungen indes auch die politische Indoktrination der Jugend eine wichtige Rolle. Schließlich gewährte das Gesetz der jugendlichen Arbeiterschaft einen drei bzw. sechs Tage längeren Urlaub, sofern eine Teilnahme an einem HJ-Jugendlager nachgewiesen werden konnte. Hier kam es Axmann darauf an, die Zukunft des Reichs politisch zu schulen und ideologisch nach den Wünschen der NS-Führung zu formen. Demnach besaß das Jugendschutzgesetz nicht nur eine ökonomische und militärische, sondern auch eine ausgewiesen politische Komponente. Der Hitlerjugend wurden auf diese Weise noch mehr Möglichkeiten eingeräumt, auf die deutschen Jugendlichen einzuwirken. Tatsächlich nahm die Beteiligung Jugendlicher an HJ-Lagern bereits kurz nach dem Erlass des Jugendschutzgesetzes deutlich zu.
Letztlich stammte der Entwurf des Gesetzes jedoch nicht von der Reichsjugendführung, sondern aus dem RAM. Auch wenn sich das Ministerium um Reichsarbeitsminister Franz Seldte durchaus aufgeschlossen für weitergehende Bestimmungen zeigte, führte es doch andere Motive ins Feld als die HJ-Führung. Hier spielten wirtschaftliche Argumente die zentrale Rolle, zumal das Ministerium bei der Genese des Gesetzes nicht nur mit dem Reichswirtschaftsministerium zusammenarbeiten musste, sondern zugleich auch auf die Zustimmung der deutschen Industrie angewiesen war. Letztere widersetzte sich zunächst hartnäckig einer neuen Regelung, da sie um ihre Wettbewerbsfähigkeit fürchtete. Auch die Wehrmachtführung neigte tendenziell dazu, sozialpolitisches Engagement zu bremsen, um die ehrgeizigen Rüstungsziele nicht zu gefährden. Folglich musste auch das RAM auf militärische Beweggründe für das Gesetz hinweisen, um den drohenden Stillstand zu verhindern. Mehr als deutlich bekannte sich Seldte 1939 nicht nur zu den wirtschaftlichen, sondern auch zu den militärischen Motiven der weiterreichenden Bestimmungen.
Kann man letztlich Jürgen Kuczynskis Urteil zustimmen, das Jugendschutzgesetz von 1938 sei lediglich dazu da gewesen, die männliche Jugend körperlich auf einen Lebensraumkrieg vorzubereiten und die weibliche Jugend für die künftige Mutterschaft zu schonen? Der Historiker Dirk Thies hat diese These differenziert und kam zu dem Schluss, „alle arbeitsideologischen, staatserzieherischen und wirtschaftspolitischen Gesichtspunkte" seien lediglich ein Anhängsel eines kategorischen Leitgedankens gewesen: der Wehrkrafterhaltung. „Die Sorge um die Gesundheit der arbeitenden Kinder als zukünftige Frontkämpfer trieb entscheidend die nationalsozialistische Initiative zur Verbesserung des Kinderschutzes voran." Diesen Einschätzungen muss sich auch eine auf breitem Fundament stehende Studie über die Genese des Jugendschutzgesetzes anschließen. Dass Sozialpolitik im Dritten Reich nicht der sozialen Gerechtigkeit diente, sondern der wirtschaftlichen Kriegsvorbereitung, der Sicherung von Loyalität, der Wehrhaftmachung, der Schaffung einer „Volksgemeinschaft" durch Inklusion und Exklusion, der Propaganda und der politischen Indoktrination, macht das Jugendschutzgesetz mehr als deutlich.
By Lukas Grawe
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